Mit Interrail zurück in die Zukunft
Unser Autor Christian wurde 50. Keine leichte Zeit für ihn. Aber dann kaufte er sich ein Interrail-Ticket und fuhr per Zug bis Sizilien. Die Geschichte einer Verwandlung.
Unser Autor Christian wurde 50. Keine leichte Zeit für ihn. Aber dann kaufte er sich ein Interrail-Ticket und fuhr per Zug bis Sizilien. Die Geschichte einer Verwandlung.
Es waren noch genau 15 Tage bis zu jenem unheilvollen Datum. Dem 50. Geburtstag. Eine Zahl, die seltsame psychologische und emotionale Erschütterungen vorausschickte. In den Dreissigern fühlte ich mich noch jung. In den Vierzigern einigermassen rüstig – auch wenn das Herzinfarktrisiko stieg. Aber 50 war eine Grenze, die zu nehmen ich noch nicht reif war. «Die Zeit der Einschläge rückt näher», pflegte mein Klassenkamerad zu sagen. Ein Arzt, er musste es wissen.
Die Wochen vor dem Geburtstag versank ich in Selbstmitleid und wollte die Welt vor meiner Wohnungstür ausschliessen. Da flatterte der Vorschlag für eine Reisegeschichte ins Haus: mit dem Zug von der Schweiz bis nach Sizilien, vom schmuddeligen Restwinter in den Frühling. Die Zwischenstopps könne ich frei wählen, Florenz und Rom sollten aber auf der Reiseroute liegen. Die Klassiker eben.
Und ich? Zögerte. Wegen Florenz und Rom, in denen ich zuletzt vor vielen Jahren war. Zu viele Erinnerungen an mein jüngeres Selbst. Nostalgie war das Letzte, das ich gebrauchen konnte. Aber die Zeit drängte. Also kaufte ich ein Ticket und sass mit Knoten im Magen von St. Gallen über Arth-Goldau und Mailand im Zug Richtung Florenz – so wie damals vor 32 Jahren.
Mit von der Partie ist M., die mich gerade besucht, Mitte 30, Amerikanerin und voller Vorfreude, «the most beautiful cities in the world» zu sehen. Jugendlicher Überschwang. Mit 18, zur Kunst-Schulreise, war ich das letzte Mal in Firenze. Auch seinerzeit kam ich mit dem Zug in dem Bahnhofsungetüm mitten in der Altstadt an, das schon damals vor sich hinbröckelte und anscheinend seitdem nicht renoviert wurde. Und kaum steige ich aus dem Zug, schwappen die Erinnerungen über mir zusammen wie die Salsa di pomodoro über den Florentiner Pici: die unglückliche Liebe zu E., verbotene Chianti-Gelage und die langatmigen Vorträge des Kunstlehrers.
M. und ich ziehen durch die Florentiner Museen (die meiner Meinung nach zu den besten der Welt gehören): die Medici-Kapelle, das Opera-del-Duomo-Museum mit der herrlichen «Pietà» von Michelangelo, die Uffizien und das Kloster San Marco mit den Fresken von Fra Angelico – Florenz’ Renaissance-Kunst verschlägt mir immer noch den Atem. Und irgendwann stehen wir vor Michelangelos «David» in der Galleria dell’Accademia, dem vielleicht schönsten Männerkörper, der je in Marmor gemeisselt wurde. Damals (ich war ebenfalls mit einem trainierten Sportlerbody ausgestattet) war David so etwas wie ein Vorbild: selbstbewusst und vor Zukunftshoffnung strotzend. Heute sinniere ich zu Füssen des Renaissance-Models über die Vergänglichkeit, übers Älterwerden. Ich träume von den guten alten Jugendtagen mit ihren Verheissungen fürs Leben. Meine Nostalgie schlägt in Melancholie um.
M. nervt das. «Italy is a paradise and you are being such a grouch!», Italien sei ein Paradies und ich ein Sauertopf!, schimpft sie – nicht ganz zu Unrecht. Ich verspreche, mich zu bessern. Nächster Stopp: Rom – was übrigens mit dem ausgezeichneten und ehrlich gesagt, etwas überraschenden Schnellzugsystem in Italien gerade mal 1:45 Stunden entfernt ist. Das letzte Mal war ich hier als Neunjähriger mit meinen mittlerweile verstorbenen Eltern: Erinnerungs-Overload, was ich M. nicht verrate. Ich lächle artig, aber sehe den kleinen Christian, wie er über die alten Steine klettert. Wo ist nur die Zeit geblieben?
Nach dem obligatorischen Sightseeing der antiken Überbleibsel schlendern wir durch das historische Zentrum. Italiens Städte sind mehr als andere ein Paradies für Flaneure. In Gassen voller gestylter Menschen und mit einer Patina wie ein Ölgemälde von Caravaggio brummt das Dolce Vita, das genussvolle Leben. Das liest man zwar in jedem Italienprospekt, ist aber dennoch reales Lebensgefühl und kein Klischee. Irgendetwas ändert sich südlich der Alpen mit den Menschen. Im Norden: (protestantisch) genussfreie Rackerei. Im Süden: erst mal Vino und dann mal sehn.
Und langsam, wie homöopathische Dosen, steckt mich die italienische Lebensfreude an – insbesondere wenn es ans Essen geht. So tafeln wir, wenn immer möglich, herrschaftlich. Wir ergattern den Tisch einer Trattoria in einer Seitengasse, durch welche die Vespas sausen und ab und an der faule Geruch des Tiber weht. Von den terrakottafarbigen Palazzi bröckelt der Putz in grossen Klumpen, aber in der Kirche nebenan prangt ein echtes Raffael-Fresko. Grandezza und Schnodder liegen in Italien oft nebeneinander. Egal, denn die Antipastiplatte mit Salumi, Pancetta, Crudo, die Tonnarelli Cacio e Pepe, Artischocken nach jüdischer Art, die Coda alla vaccinara, der Ochsenschwanz-Eintopf, sind für unsere Geschmacksknospen, was die Sixtinische Kapelle für den Kunst-Connaisseur ist: ein kleines Wunderwerk. Da bleibt wenig Raum für altersbedingte Weltuntergangsstimmung.
Und je weiter südlich wir kommen in den Sonnenschein und in jenes Italien, in dem ich noch niemals war, desto lichter wird mein Gemüt. Nach einem Pizza-Margherita-Stopp unter Arkaden in Neapel und einigen Tagen im herzigen Dörfchen Scilla in Kalabrien landen wir schliesslich in der Stadt Syrakus auf Sizilien, einem der südlichsten Punkte Europas, die man mit dem Zug erreichen kann (hier unsere Bucketlist zu Syrakus). Gassengewirr, sinnesberauschende Märkte, griechische Gemäuer, Caravaggio-Gemälde, Sonnenschein und der salzig-herbe Duft des Mittelmeers: Wir verlieben uns sofort in die Stadt und bleiben in unserem Altbauappartement auf der Halbinsel Ortigia länger als geplant. Und schliesslich kommt der Tag der Tage, der gefürchtete 50. Geburtstag. M. besorgt einen Kuchen, wir gehen auf archäologische Entdeckungstour, schlemmen Antipasti, sitzen in Cafés und frönen dem italienischen Dolcefarniente. Ein perfekter Tag. Ich pfeif auf die 50. La vita è bella. Grazie mille, Italia!
FLORENZ
Farmacia di Santa Maria Novella Die vielleicht schönste Apotheke der Welt befindet sich unweit der Kirche Santa Maria Novella (Via della Scala). In den Räumen im Renaissance-Stil gibt es heute qualitätsvolle, eigene Beautyprodukte.
San Miniato al Monte Schönster Spot für einen Sundowner (eigenes Picknick und Wein mitbringen) sind die Treppenstufen vor der Kirche San Miniato al Monte mit Blick über die Stadt.
ROM
Schlemmen im jüdischen Viertel Im ehemaligen jüdischen Ghetto (unweit der Tiberinsel) kann man in den koscheren Restaurants herrlich essen. Die Spezialität: frittierte Artischocken.
Via Appia Antica Die berühmte Römerstrasse ist über 2000 Jahre alt und teilweise noch im Original erhalten. Ein herrlicher Spaziergang durchs Grüne auf dem alten Pflaster bietet sich ab den San-Sebastian-Katakomben an. Hin geht es mit Bus 118 ab dem Kolosseum.
NEAPEL
Pizzagenüsse In Neapel wurde die Pizza erfunden. Weltberühmte Pizzerien sind «Da Michele» und «Sorbillo» – mit teils über einer Stunde Wartezeit für einen Sitzplatz. Die gute Nachricht: Jeder Pizzabäcker in Neapel versteht sein Handwerk, insbesondere in der Via dei Tribunali.
SCILLA
Übernachten am Meer Das Dörfchen Scilla in Kalabrien ist ein Schmuckstück. Unbedingt im Fischerviertel Chianalea unterhalb der Burg übernachten! Dort klatscht das Meer direkt an die Häuser, die teilweise zu Ferienunterkünften umfunktioniert wurden.
Morgenkaffee im Café Bellavista Zum Zmorgen geht es hoch in die Oberstadt ins Café Bellavista mit schönem Blick über die Küste. Hier schlürft man seinen Cappuccino mit den Arbeitern, Polizisten und Rentnern.
SYRAKUS
La Salumeria – Fratelli Burgio Mitten im Lebensmittelmarkt an der Piazza Cesare Battisti befindet sich dieses kleine Paradies italienischer Charcuterie und Käsesorten. Die Antipasti-Platten sind ein Gedicht!
Velo-Stadttour In einer Elektro-Velo-Rikscha geht rd mit kundigen Guides zu den Highlights der Altstadt – eine nette Möglichkeit, einen ersten Überblick über die Sehenswürdigkeiten und die Geschichte der Stadt zu bekommen.
Interrail Vor über 50 Jahren wurde das Interrail-Ticket als ein Mittel für die Völkerverständigung in Europa ins Leben gerufen. Mittlerweile ist das «Europa-GA» in 33 Ländern (ausser dem Heimatland) für alle Altersklassen gültig. War Interrail einst nur Jugendlichen bis 27 Jahren vorbehalten, steht der Pass preislich gestaffelt nun allen Altersklassen zur Verfügung. Angeboten werden Interrail-Pässe zu einzelnen Ländern, oder sie sind gültig im gesamten Verbund an 4 Tagen in einem Monat bis zu drei Monaten fortlaufend. sbb.ch
Interrail oder individuelle Billetts?
Wir wählten ein Ticket für 187 Franken (für Reisende über 28 Jahre), mit dem wir an 5 Tagen innert einem Monat in Italien unterwegs sein konnten. Dazu kamen noch Reservierungskosten pro Fahrt im Schnellzug von je 10 Euro. Insgesamt summierte sich die Bahnreise also auf etwa 230 Franken. Reserviert man allerdings dieselben Züge einige Wochen im Voraus, kommt die gesamte Strecke von Chiasso nach Syrakus auf etwa 124 Euro. Fazit: Wer flexibel bleiben will, greift zu einer der verschiedenen Interrail-Varianten. Wer seine Reise rechtzeitig plant, kommt mit individuellen Billetts günstiger weg. Übrigens: Für andere Länder gilt diese Rechnung nicht unbedingt. Italien verlangt mehr kostenpflichtige Reservierungen für Interrail-Nutzer als andere Staaten.
Informationen: italia.it