Seit zwei Stunden schlemmen wir wie italienische Grafen. Eigentlich hätte es nur ein kurzer Stopp im Ristorante Al Vèdel im Ort Colorno sein sollen, aber Besitzer und Chef Enrico Bergonzi möchte den weit gereisten Gästen (so oft tauchen hier im Nordosten der Emilia-Romagna noch keine ausländischen Besucher auf) das Beste aus seiner Küche zeigen: eingelegten Fisch vom Fluss Po, der gleich um die Ecke vorbeifliesst, hausgemachte Ravioli, gebratenes Kalb, das auf der Zunge zerfliesst wie Sushi. Und natürlich die Salumi und Schinken, die in den Kellern unter dem Restaurant heranreifen: Spalla Cruda, Fiocchetto, Coppa, Pancetta, Strolghino. Namen, die dem Fleischliebhaber ein glückseliges Lächeln auf die Lippen zaubern. Allen voran der Culatello di Zibello, der Rohschinken, der als eines der edelsten Charcuterie-Erzeugnisse Italiens gilt – was für den Geschmack zutrifft (ein leicht salziges Kitzeln auf der Zunge), aber definitiv nicht für den Geruch.
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Enrico nimmt uns mit in den Reifekeller, in dem mehrere Tausend Salamis und Culattelos an der Decke hängen. Ein herrlicher, fast schon heiliger Anblick, aber der Duft haut uns um: eine Mischung aus Moder und abgestandener Feuchtigkeit. «Wichtig ist eine Luftfeuchtigkeit von mindestens 60 Prozent», so Enrico. «Deswegen produzieren wird den Culatello nur im Winter, wenn hier in der Poebene die Nebel aufziehen.» Und nebst Nebel braucht der Culatello, wie übrigens alle Charcuteriewaren, die Enrico herstellt, nur Salz und Zeit. Zwei Jahre lang reifen die in eine Schweineblase eingeschnürten Schinken vor sich hin – und schmecken dann einfach nur noch himmlisch. Keine Übertreibung! Und wenn Enrico zwischen den knubbeligen Schinken, die nur von etwa 20 Erzeugern hergestellt werden, den birnenförmigen Würsten und den schlanken Pancettas hindurchschreitet, dann hat man das Gefühl, er betrachtet Kunstwerke in einem Museum. Passt: Denn in keiner anderen Region wird die Zubereitung von Lebensmitteln so zelebriert wie eine Kunst wie in derjenigen zwischen den Städten Piacenza, Parma, Reggio Emilia und Modena. Es wundert kaum, dass nirgends sonst in Italien so viele Leckereien mit geschützter Ursprungsbezeichnung hergestellt werden: Parmigiano Reggiano, Aceto Balsamico Tradizionale, Lambrusco, Prosciutto di Parma.
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Die Marketing-Menschen haben sich für die Region den Begriff «Food Valley» ausgedacht, das Tal der Lebensmittel. Besser wäre gewesen: «Valley of Abundance», das Tal der Fülle. Denn egal, in welchen Dörfchen wir auf unserem kleinen Roadtrip durch die Region Emilia vorbeikommen, wir entdecken überall eine kulinarische Besonderheit – wie beispielsweise den süssen Dessertwein Vin Santo, der nur von acht Winzern im Dörfchen Vigoleno hergestellt wird und für den man laut Önologin Nicola in der richtigen Stimmung sein muss, um ihn zu geniessen. «Ich nenne es eine meditative Stimmung», so die 30-Jährige. «Man muss innerlich völlig gelassen sein, um dieses besondere Getränk wirklich zu schätzen.» Non c’è problema. Gelassenheit ist hier in Vigoleno am Rande des Apennins mit der beruhigenden, sanft dahinfliessenden Landschaft mit Weinbergen, Wiesen und Wäldern eine der leichtesten Übungen.
Der Anblick erinnert uns etwas an die Toskana, die nicht weit entfernt ist. Mit einem entscheidenden Vorteil: In der Region Emilia sucht man Touristenmassen vergeblich. Verblüffenderweise gilt die Region immer noch als Geheimtipp. Dabei erlebt man hier ein ursprüngliches Italien ohne Schischi, handfest und ehrlich – mit der typischen Dolce Vita, herrlichen Landschaften, süssen Dörfchen und kultureller Grandezza. Oder sollte man besser sagen: Mit all dem ehemaligen Reichtum, der noch heute durch die verwitterten Gassen und Herrenhäuser hindurchscheint.
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Auf unserem kleinen Roadtrip durch die Region Emilia haben wir bei 20 Schlösschen aufgehört zu zählen – in (fast) jedem Dorf steht hier ein Herrenhaus und kündet davon, dass die fruchtbaren Ebenen schon immer die reiche Kornkammer Italiens waren. Viele der Gebäude ähneln allerdings dem Culatello: aussen pfui, innen hui. So wie das Stadtschloss im Ort Soragna, das aussieht, als sollte man mal eine Verputzerfirma vorbeischicken, aber im Innern seit mehreren Jahrhunderten (das Anwesen geht auf das 14. Jahrhundert zurück) seine Pracht, Fresken und Stuck-Spielereien bewahrt hat. Die Namen und Daten, mit denen Führerin Linda herumwirbelt, sind so schnell vergessen, wie wir sie hören, aber die Ausstattung lässt uns sprachlos zurück – auch wegen der psychedelischen Motive, für die man hier in der Region anscheinend eine Vorliebe entwickelt hat. Besonders geballt finden sich diese sogenannten Grotesken aus dem 16. Jahrhundert im unbewohnten Schloss Torrechiara im Ort Langhirano: skurrile Fresken, die von Fantasiewesen über surreale Landschaften bis hin zu derben Darstellungen eine solche Bilderwucht zeigen, dass man sich fragt, ob die Maler und Herrscher nicht ein bisschen zu sehr ins Lambrusco-Glas geschaut hatten.
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Der lokale Perlwein, den wir bis anhin nur als minderwertigen Durstlöscher betrachtet haben, ist übrigens eine der überraschenden Entdeckungen unserer Genussreise: Der Rote, kühlschrankkalt, ist ein herrlicher Erfrischer und Begleiter zu den deftigen Speisen der Region. Unbedingt probieren! Und wo Lambrusco hergestellt wird, ist ein Produkt nicht weit, von dem wir zugegebenermassen keine Ahnung hatten: das Geschmacks-Wunder Aceto Balsamico Tradizionale. Einige der besten Balsamicoessige werden im Weingut Medici Ermete hergestellt. Hausherrin Alessandra: «Manche unserer Balsamicoessige sind mehr als 25 Jahre alt.» Und dann zeigt uns die Mittfünfzigerin, wie man den Essig traditionellerweise degustiert: Sie tröpfelt uns ein paar Tropfen auf die Hand zwischen Daumen und Zeigefinger. «Nun schleckt.» In unserem Mund explodiert eine Geschmacksbombe. «Immer wenn es mir nicht gut geht, mache ich das und die Sonne lacht wieder», so Alessandra – die Sonne, die vor einer Generation auf die Trauben schien und nun in diesem Mix aus säuerlichem Essig und süssem Honig konserviert ist.