An der Reling auf Deck 9 der «Havila Castor» mit Blick über den Bug, der durch die aalglatte See pflügt, und wo die Kälte des Nordens sich im Gesicht festbeisst, scheinen die Probleme der Welt nur noch ein fernes Ahnen. Denn wie in Zeitlupe zieht eine der ergreifendsten Landschaften an mir vorbei, die ich in meinem Leben gesehen habe: die arktische Tundra. Jenseits der Stadt Hammerfest, irgendwo am 70. Breitengrad, überziehen nur Moose und Flechten das Land. Und jetzt im Herbst bestimmen erdige Farben das Bild: Ocker, gebranntes Siena, Umbra. Die sanften Hügel und Hochflächen hier in der Region Finnmark erinnern mich an die Wüste – würde zwischen den Inselchen nicht eine faule See herumlümmeln, die sich kaum die Mühe macht, ein paar Wellen zu werfen. Eine Landschaft, so karg und doch so schön.
Unterwegs bin ich an der norwegischen Küste mit der «Havila Castor», Norwegens ganz eigenem Mix aus Passagierfähre, Lastkahn und Kreuzfahrtschiff. Von der Stadt Bergen im Süden bis weit hinauf in den Norden bis zur Stadt Kirkenes, fast an der russischen Grenze, und wieder zurück bis nach Tromsø. Acht Tage auf einer der beliebtesten Seereisen der Welt: der Hurtigruten-Strecke.
Foto: Travel Magazin
Seit jeher war das langgestreckte Land mit der Herausforderung konfrontiert, den Süden mit dem Norden zu verbinden (Norwegens Küste ist 2700 Kilometer lang – mit allen Fjorden gerechnet kommt das Land gar auf 80 000 Kilometer Küstenlinie). Vor dem Bau von asphaltierten Strassen war eine Reise auf dem Landweg ein kräftezehrendes und gefährliches Unterfangen. Die Lösung: regelmässige Dampfschiffe für Post, Personen und Waren. Im Jahr 1893 verband das erste Schiff die Städte Trondheim und Hammerfest, 1908 wurde die Verbindung auf die jetzige Strecke von Bergen nach Kirkenes verlängert. Ursprünglich liefen die Schiffe 60 Häfen an, derzeit sind es noch 34. Und auch nach dem 130. Geburtstag der Hurtigruten hoppen Küstenbewohner von Hafen zu Hafen und werden Waren auf den Schiffen transportiert. Daneben hat sich die Reise entlang von Norwegens Küste zur beliebtesten Kreuzfahrt der Welt gemausert.
Der Grund: die Landschaft. Denn was sich da vor den Panoramafenstern abspielt, ist ganz grosses Kino. Teils mehrere Hundert Meter hohe, schartige Berge stürzen direkt ins Meer. Dazwischen recken sich Fjorde (von Gletschern ausgehobelte Täler) wie Oktopustentakel ins Land. Manche davon sind mehrere Dutzend Kilometer lang. Das ist so spektakulär, dass die Unesco die westnorwegische Fjordlandschaft zum Welterbe erklärt hat.
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Drei Bücher habe ich für meine achttägige Reise mitgebracht. Bei so vielen Stunden auf dem Wasser würde ja reichlich Zeit bleiben, um mich einigen liegengebliebenen Lektüren zu widmen, dachte ich – keines habe ich gelesen. Stattdessen klebe ich mit der Nase am Fenster oder lasse mir den Wind an der Reling durchs lichte Haar wehen. Denn mich begeistert diese nordische Landschaft. Insbesondere deren allmähliche Veränderung vom satten Grün des Südens über die immer mickriger werdenden Bäume der Taiga jenseits des Polarkreises bis hin zur Kargheit des Nordens. Und deren Stille. Mit gerade mal 1,5 Menschen pro Quadratmeter ist die Finnmark, Norwegens nördlichster Landstrich, die am wenigsten dicht besiedelte Region Europas. Manchmal fahren wir Stunden, ohne dass ein technisches Geräusch die Ruhe stört. Auch die «Havila Castor» gibt mitunter kaum einen Laut von sich.
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Grund dafür ist die grösste Batterie auf den Weltmeeren, mit der das Schiff so still durch das Wasser gleitet wie die Grindwale, die öfters um uns herumspringen. 86 Tonnen wiegt der Stromspeicher und bringt 6,1 Megawattstunden Leistung. Das reicht, um den tonnenschweren Koloss bis zu vier Stunden zu betreiben. Die beiden Havila-Schiffe, die in diesem Jahr die Hurtigruten-Strecke bedienen (zwei weitere sollen im nächsten Jahr in Dienst gestellt werden), sind so nachhaltig, wie Kreuzfahrten derzeit sein können. Betrieben werden die Dampfer mit einem hybriden Strom-Flüssiggas-Antrieb (LNG). Das verflüssigte Gas, das in Norwegen selbst hergestellt wird, ist der grünste fossile Kraftstoff. Dadurch werden bis zu 40 Prozent CO2 und bis zu 90 Prozent des Stickstoffausstosses eingespart. Zum Nachhaltigkeitskonzept gehört auch der Verzicht auf jeglichen Rambazamba. Der einzige Luxus sind eine Sauna, ein Whirlpool und eine Bar auf dem Panoramadeck. Und als «Entertainment» gibt es einen täglichen Vortrag über Geografie, Kultur, Geschichte und Brauchtum der Regionen, die wir gerade durchkreuzen.
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Um die Theorie auch in der Praxis zu erleben, stehen jeden Tag verschiedene Ausflüge auf dem Programm: Stadtführungen, Kulinariktouren oder Abenteuererlebnisse. Ich lerne, wie das Leben in einem abgeschiedenen Fjord aussieht (sehr ruhig und beschaulich), warum Trondheim das wichtigste Pilgerziel Norwegens ist (hier liegt der erste christliche Wikingerkönig begraben) und was Huskys im Sommer tun, wenn sie nicht durch den Schnee flitzen können (vor allem SEHR herzig schauen und sich streicheln lassen). Mein Exkursions-Highlight ist eine Schlauchbootfahrt auf der Barentssee bei Kirkenes. Eingemummelt in Thermoanzüge gehts zum Fischen von Königskrabben – urzeitlich stacheligen Viechern, deren Spannweite bis zu zwei Meter betragen kann. Unsere Exemplare sind etwa 50 Zentimeter lang, was nur so lange gruselig ist, bis so ein Bein gekocht auf meinem Teller liegt. Ein Gaumenschmaus – typisch nordisch auf Roggenbrot mit einem Schuss Zitrone und einem Klecks Mayonnaise.
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