Der Rütlischwur ist das wichtigste Ereignis der Schweizer Geschichte – und Fake News. Denn auf der Wiese am Vierwaldstättersee haben sich nie drei bärtige Urschweizer getroffen, um mit ihrem Bund die Eidgenossenschaft zu gründen. Den Rütlischwur hat es nie gegeben. Er ist eine Erfindung aus dem 15. und 16. Jahrhundert.
Die Entstehung der Legende
Die erste Erwähnung der verschworenen Urschweizer auf dem Rütli taucht im «Weissen Buch von Sarnen» aus dem Jahr 1470 auf, einer Sammlung von Kopien der wichtigsten Verträge und Bündnisse der Zeit.
Knapp 100 Jahre später dann feilt der ersten Schweizer Geschichtsschreiber Aegidius Tschudis weiter an der Story und gibt ihr den endgültigen Plot. In seiner «Chronicon Helveticum» (1550), dem ersten Schweizer Geschichtsbuch, erhalten auch die Protagonisten Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold von Melchtal ihre Vornamen – wobei nur die ersten beiden als historische Personen gelten.
Zu Weltruhm verhalf der Schweizer Gründungslegende schliesslich der deutsche Dramatiker Friedrich Schiller. In seinem Werk Wilhelm Tell von 1804 wird der Rütlischwur und die Ereignisse um Wilhelm Tell (siehe auch unser Audio und Artikel über den Schweizer Nationalhelden) in pathetische Bilder gegossen. Von ihm stammen die salbungsvollen Zeilen des Schwurs, die man auch heute noch in der Schweiz rezitiert (siehe Video obenstehend).
Warum wurde der Rütlischwur erfunden?
Die Erfindung des Gründungsmythos fällt in eine Zeit, in der sich die Alte Eidgenossenschaft (mittlerweile war sie auf 13 Orte angewachsen) im Machtspiel der europäischen Politik behaupten musste. Das Gebiet der heutigen Schweiz war Teil des Römischen Reichs Deutscher Nation – allerdings ausgestattet mit einigen Sonderrechten.
Denn die Alte Eidgenossenschaft war zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu einer europäischen Mittelmacht aufgestiegen, und einzelnen Gebieten und Städten war Reichsunmittelbarkeit zugesprochen worden. Heisst: Die Gebiete und Städte waren direkt dem Kaiser unterstellt und nicht einer lokalen Ordnungsmacht, wie sie die Habsburger in der Region lange ausübten.
Um 1500 wurde die Eidgenossenschaft dann zu einem immer festeren Gebilde, das auch von Aussen als Einheit wahrgenommen wurde. Allerdings durchaus nicht nur positiv, denn die Eidgenossen hatten ab dem 14. Jahrhundert verschiedene Gebiete erobert, die rechtmässig den Habsburgern zustanden (Sempach, Aargau, Thurgau).
Das war hart an der Grenze zu Legalität und es drohten durch den Kaiser Repressalien. Und den Eidgenossen lag viel daran, den Status Quo zu erhalten.
Eine Rechtfertigung musste her
Am Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert wurde deshalb der Gründungs- und Freiheitsmythos, zu dem nebst dem Rütlischwur auch die Geschichte des Wilhelm Tell gehört, erfunden. Die Idee dahinter war simpel: Wen man einen Gründungsakt und einen Nationalhelden vorweisen konnte, die beide das Ergebnis eines Freiheitskampfes gegenüber den Habsburgern waren, so hoffte man, sein politischen Handeln zu rechtfertigen.
Die Aussenwelt betrachtete die Eidgenossenschaft als unrechtmässig entstanden. Mit dem Befreiungsmythos baute man die Geschichte auf, die Ordnungsmacht der Habsburger hätte die Menschen unterdrückt, anstatt sie zu beschützen: Deswegen sei es legitim, wenn man die Angelegenheiten nun in die eigene Hand nähme. Dank dieser Propaganda konnte die Eidgenossenschaft den Makel der Illegitimität abschütteln. Der Plan ging übrigens auf: 1648 trat die Schweiz offiziell aus dem Römischen Reich Deutscher Nation aus und wurde ein souveränes Staatsgebilde.
Mit der Gründung der heutigen Schweiz im Jahr 1848 und der Suche nach einer nationalen Identität mussten sowohl Rütlischwur, Wilhelm Tell und der Bundesbrief von 1291 (siehe auch unser Video) ein weiteres Mal eine wichtige Rolle übernehmen: Sie sollten ein Gemeinschaftsgefühl einer Nation herausbilden, die aus unterschiedlichen Kulturen geformt ist.
Auch wenn man den Rütlischwur längst als geniales Storytelling enttarnt hat, seine Bedeutung für die Schweizer Identität kann kaum hoch genug gewürdigt werden.
Wir danken Frau Annina Michel, Leiterin des Bundesbriefmuseums, für ihren fachlichen Input zu diesem Text.