Norwegen – bis zum Ende der Strasse
Norwegen ist eines der letzten Vanlife-Paradiese Europas. Dramatische Landschaften, menschenleere Weite und viele schöne Camping-Spots machen das Land zur idealen Roadtrip-Destination.
Manchmal lässt sich das Glück mathematisch dingfest machen. Die Koordinaten zu meinem kleinen Paradies lauten präzise: 70°17′21″N 25°8′15″E – eine ruhige Bucht im Porsangerfjord. Drei Meter von der Tür meines VW-California-Büsslis plätschern Wellen an knubbelige Felsen. Ein roter Bootsschuppen steht da, als sei der Fleck vom norwegischen Tourismusministerium als Instagram-Spot inszeniert worden. Ein paar Schafe grasen, ansonsten bin ich hier völlig allein. Und am Morgen küsst mich eine Sonne, welche den Herbsttag jenseits des Polarkreises so aufwärmt, dass ich im Pullover draussen zmörgelen kann.
Foto: TravelMagazin
Es sind genau diese magischen Vanlife-Momente, die Norwegen (und Schweden und Finnland) zum letzten wahren Paradies für Camper, Wohnwägler und Büsslifahrer in Europa machen. Während nämlich im Rest des Kontinents das wilde Campen fast überall verboten ist, gilt in Norwegen das Jedermannsrecht: In freier Natur darf hier jeder sein Zelt aufschlagen oder seinen Van parkieren – wenn er Anwohner nicht stört und sich gebührend verhält (siehe unten). Und zudem gibt es in Norwegen das Wichtigste, was man für abenteuerliche Camperferien braucht: Platz bis zum Horizont, wie beispielsweise in meiner Lieblingsgegend des Landes, der Finnmark im Nordosten, der am wenigsten besiedelten Region Europas. Hier leben statistisch gesehen 1,5 Bewohner auf einem Quadratkilometer.
In dieser Leere gibts freilich keine klassischen Sehenswürdigkeiten, die man «abhaken» kann. Die Stars sind die Landschaft, die zerfranste Küste mit ihren hohen Bergen und Fjorden und die Finnmarksvidda, jene Ebene, die so rau ist, dass hier nur Moose und Flechten regieren. Und Weite und Himmel. Beim Wandern auf dem luftpolsterweichen Moos begegnet man keiner Menschenseele – dafür Hunderten von Rentieren, die in ebensolchen Brauntönen schillern wie die Landschaft.
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Jeden Frühling und Herbst ziehen Zehntausende Rentiere über die Ebene, im Sommer zu den grünen Küsten, im Winter auf die Ebene, wo der Schnee so dünn ist, dass die Tiere an ihre Leibspeise – Flechten und Moose – rankommen. Die Rentierwanderung ist eine der grössten Tiermigrationen der Welt und ein gewaltiges Schauspiel, das mich an die Wanderung der Gnus in der tansanischen Serengeti erinnert. Rentiere sind seit jeher die Lebensgrundlage der Sami, der Urbevölkerung im Norden Skandinaviens. Noch heute werden die Tiere für Fleisch und Fell gezüchtet.
Und auch wenn es keine wilden Rentiere mehr gibt (sie sind alle semi-domestiziert), eines hat sich seit Jahrtausenden nicht geändert: Die Rentiere geben den Lebenstakt vor. «Wir schicken die Tiere nicht auf den Weg», erläutert Rentierzüchter Inger. «Die Tiere entscheiden, wann sie losziehen, und wir folgen ihnen.»
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Zentren der samischen Kultur sind die Orte Kautokeino und Karasjok, wo sich das Sami-Parlament, ein Museum mit zeitgenössischer Samikunst und ein gutes ethnografisches Museum befinden. Ein Besuch lohnt sich hier besonders. Und wer die samischen Traditionen auch mit den Geschmacksknospen erfahren möchte, sollte sich zu Kjells Kafé in Karasjok aufmachen und ein Suovas bestellen: Geschnetzeltes aus geräuchertem Rentierfleisch.
Zehn Tage lang roadtrippe ich durch Nordnorwegen, gehe wandern, snacke Rentier-Jerky, suche nach Elchen (und werde fündig!), schlemme selbstgefangene Königskrabben und knuddle Huskys. Aus den Boxen trällert mein Roadtrip-Soundtrack, die Songs der norwegischen Sängerin Kari Bremnes, die genauso wehmütig sind wie das Land.
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Und schliesslich komme ich zum Ziel der Ziele in Skandinavien: dem Nordkap, dem nördlichsten Punkt, den man auf der Welt mit einem Auto erreichen kann. Anders als die Werbung hier volltönend verspricht, handelt es sich nicht um den nördlichsten Punkt Europas. Der ragt in einer benachbarten Landzunge knapp zwei Kilometer weiter nach Norden. Egal: Die 300 Meter hohen Felsen sind eindrücklich und «nur» noch 2100 Kilometer vom Nordpol entfernt. Zum Vergleich: Das ist etwa in der Mitte Grönlands und ganz im Norden von Alaska. Mit mir haben sich hier Ende September nur zehn andere Camper ans Nordkap verirrt. Ich mache es mir in meinem California gemütlich, während ein eisiger Wind an den Scheiben rattert (ein Dank an die Standheizung!), und versuche, nicht einzuschlafen: Die Chance, Nordlichter zu sehen, ist heute Nacht besonders gut. Gegen Mitternacht entdecke ich ein Schimmern in der sternenklaren Nacht. Und tatsächlich: Über dem stählernen Globus, der das Nordkap markiert, flattert ein grünes Band wie ein Schleier über den Himmel. Noch so ein Glücksmoment. Die Koordinaten? 71°10′16″N 25°46′58″E.
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Der Polarkreis ist keine klimatische Grenze, wie man oft denkt (auch wenn es nördlich der imaginären Linie sehr kalt werden kann), sondern eine astronomische. Der Polarkreis beschreibt jene Grenze, an der die Sonne mindestens einmal im Jahr weder auf- noch untergeht. Das Phänomen der Polarnacht und der Mitternachtssonne entsteht durch die Neigung der Erdachse von derzeit 23,43°. Dadurch berechnet sich auch der Polarkreis: 90° (Nord- und Südpol) minus 23,43° macht 66,57°, was sich in 66°33′55″ umrechnen lässt.
Hinkommen Nach Tromsø, wo mein beschriebener Roadtrip startete, geht es per Flugzeug mit Edelweiss Air oder der SAS. flyedelweiss.com
Reinkommen Norwegen ist Mitglied im Schengenraum. Zur Einreise genügt die ID. Camper-Miete: Wer nicht mit seinem Auto von der Schweiz bis in den hohen Norden fahren möchte, kann Camper oder Mietwagen bei verschiedenen Schweizer Veranstaltern ab der Stadt Tromsø buchen.
Jedermannsrecht Das Jedermannsrecht besagt, dass man in der Natur sein Zelt aufstellen oder in seinem Camper übernachten kann. Allerdings gibt es Regeln zu beachten: Ab zwei Nächten muss man eine Genehmigung einholen, zudem muss man einen Abstand von mindesten 150 Metern zu bewohnten Häusern einhalten. Offene Feuer sind vom 15. April bis 15. September verboten.
Informationen visitnorway.de