Achmed ist Geschichtenerzähler. Und selbst ernannter Touristenguide, was dasselbe ist. Der Berber entdeckt uns, als wir durch das Dörfchen Tamedakhte am Südhang des Hohen Atlas schlendern, und wittert ein Publikum. Und ehe wir uns versehen, befinden wir uns mitten in einer Führung durch das Dörfchen, dessen historischer Teil gerade mal aus fünf verfallenen Lehmhäusern und aus einer wenig beachteten Kasbah, einem Beduinenschloss, besteht, das in Wind und Wetter dahinbröselt. «Was kann man bloss über diesen kümmerlichen Rest erzählen?», fragen wir uns. Aber Achmed erweckt die Ruinen mit seiner Erzählkunst zum Leben. Blumige Geschichten von Liebe und Verrat sind sein Spezialgebiet. Diese schaukeln so spielend zwischen Fiktion und Wahrheit hin und her wie Scheherazades Erzählungen aus «Tausendundeiner Nacht».
Foto: TravelMagazin
Freilich, die Anspielung auf die orientalische Geschichtensammlung ist abgenutzt. Aber so viel ist wahr: Marokko verzaubert mit einer Märchenstimmung wie sonst kaum ein Land in Nordafrika. Die Schlangenbeschwörer auf dem Platz Jemaa el Fna in Marrakesch, der Gesang des Muezzins, der sich in den Gassen verfängt, und der süsslich-herbe Geruch von Zedernholz, der über dem Parfüm-Markt schwebt – sie alle sind Zutaten für eine traumverwobene Reise. Unser Ziel: die Erfüllung eines langen Traums. Ich war vor 35 Jahren als Kind das letzte Mal in der Sahara unterwegs und möchte mal wieder den warmen Wüstensand unter meinen Füssen spüren. Und da die Zeiten der Kamelkarawanen leider vorbei sind, wählen wir für unseren Roadtrip von Marrakesch über den Hohen Atlas in die Wüste einen Toyota Land Cruiser.
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Denn Marokko zählt für Europäer dank seiner guten Anbindung mit Fähren aus Spanien und Frankreich zu den beliebtesten Ländern für «Ferien auf vier Rädern» – ob offroad in der Wüste oder entlang der Bundesstrassen, die in einem verblüffend guten Zustand sind. So gut, dass uns am Rande der Wüste eine französische Reisegruppe in historischen Renault-4-Modellen entgegenkommt.
Los geht es im Gassengewirr von Marrakeschs Altstadt – wie sollte es anders sein – mit einem «Märchen», wenn auch einem sehr kurzen. Autovermieter Mohammed drückt uns den Schlüssel mit folgenden Worten in die Hand: «Da vorne rechts gehts schnell aus der Medina.» Doch «da vorne rechts» wartet ein Labyrinth von Gassen auf uns, kaum breiter als das Auto, voller Menschen, Mofas und Eselskarren. Aus erhofften drei Minuten wird ein 30-minütiger Crashkurs in marokkanischem Verkehrschaos. Doch spätestens als wir auf der Ausfallstrasse langsam über die palmengesäumte Ebene hinauf zum höchsten Pass Nordafrikas klettern, sind alle Sorgen um Kratzer und Beulen verflogen. Denn hier oben auf 2200 Metern ist die Landschaft eine Wucht: karg, zerklüftet, alpin. Auf den Gipfeln, die bis zu 4000 Meter in den Himmel ragen, liegt sogar etwas Schnee.
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Diese Schönheit hat auch Hollywood entdeckt und die marokkanische Berglandschaft sowie insbesondere die rostroten Lehmdörfer der Berber als Filmkulissen auserkoren. So wie das Dörfchen Aït-Ben-Haddou, in dem Szenen aus den Filmen «Gladiator» und «Lawrence von Arabien» oder der Serie «Game of Thrones» gedreht wurden. Und als ob er vom Tourismusbüro dafür engagiert wurde, zieht ein Berber mit seinen zwei Kamelen just bei unserem Eintreffen durchs filmreife Bild. Braune Farbkleckse vor einer Leinwand aus Cremeweiss und Blassgelb. Ansonsten gleicht die Landschaft südlich des Atlaskammes einem Foto, bei dem man mit Photoshop die Sättigung heruntergeschraubt hat.
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Vielleicht ist es diese Monotonie der Landschaft, welche die Wüstenbewohner zu solch farbenfrohen Geschichtenerzählern macht, quasi als Ausgleich. Hassan – unser Guide für unser Offroad-Abenteuer zwischen den Oasen Foum-Squid und Mhamid durch Marokkos grössten Dünengürtel, den Erg Chegaga – ist da eine Ausnahme. Hassan: Berbersohn, Touristenführer, Trommelspieler und Sinnbild eines Stoikers, der nur das Nötigste von sich gibt. In seinem Fall: «Jetzt links» oder «an dem Felsen rechts». Dass Hassan ohne GPS-Gerät weiss, an welchem Stein wir abzubiegen haben, liegt an seiner Vergangenheit als Nomade in der Region. Nun aber lebt der charismatische Berber mit dem zwölf Meter langen Turban, dem jeder Casting-Agent eine Rolle in einem Hollywoodstreifen anbieten würde, im Städtchen Foum-Squid als Touristenführer und vermisst die Wüste. «Wenn ich zu lange in der Stadt bin, komme ich hier heraus, um die Leere zu spüren», sagt Hassan in einem verblüffend langen Satz und deutet in die Ebene, die sich vor uns ausbreitet. 1001 Spurrillen rütteln uns durch, die Sonne sengt vom Himmel und eine Fata Morgana gaukelt uns vor, wir würden geradewegs in einen See fahren. Daraus empor erheben sich wie hingemalt Sanddünen. Wir steigen aus, stecken unsere Füsse in den warmen Sand und lauschen der Stille, die bald schon in den Ohren dröhnt. Vor uns liegt die Wüste, diese wunderliche Landschaft, die majestätisch und beruhigend zugleich wirkt.
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Zum Sonnenuntergang klettern wir auf eine Düne, während die Sonne das Meer mit den Wellen in Gold verwandelt. Und später, als in unserem Zeltcamp nur noch das Lagerfeuer flackert, erheben sich Myriaden Sterne über uns. Gänsehaut. Die Berber trommeln, singen und erzählen sich Geschichten. Von Liebe, Verrat und den Wundern der Wüste. Und wir träumen von einer Kamelkarawane, die uns mitnimmt zu alten Handelsposten und sagenumwobenen Oasen.
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