• Vogel unterwegs (4)

Weisse Weihnacht in Vietnam

Christen sind in Vietnam eine kleine Minderheit. Doch die Vorweihnachtszeit wird so penetrant inszeniert, mit Beschallung ebenso wie mit Dekorationen in allen Stadien der Geschmacksverirrung, dass Artur irgendwann nur noch genervt ist.

Weisse Weihnacht in Vietnam

Für die fast zwölfstündige Fahrt aus dem ländlichen Ninh Binh in die ehemalige Kaiserstadt Hué entschied ich mich für den Nachtzug. Dieses Fortbewegungsmittel habe ich auch in Europa etliche Male genutzt. Zu sagen, ich sei zum Fan geworden, wäre übertrieben: Für mein Wohlbefinden fehlen gute Speisewagen, Komfort und Raffinesse.

Ankunft am Morgen des Nachtzugs aus Hanoi.

Foto: Artur K. Vogel

Besser war der vietnamesische Zug auch nicht, der täglich mehrmals die 1726 km lange Strecke zwischen Hanoi und Ho Chi Minh Stadt (ehemals Saigon) befährt. Ich konnte zwischen einem normalen Wagen mit ungepolsterten oder gepolsterten Sitzen, einem Sechser- oder einem Vierer-Schlafabteil wählen. Für dieses entschied ich mich – man gönnt sich ja sonst nichts. Die Fahrt über zwölf Stunden oder 600 km von Ninh Binh im Norden nach Hué in Mittel-Vietnam kostete 44 Franken.

Als ich einstieg, hatte ein gepflegtes vietnamesisches Paar bereits die oberen Betten belegt; eine deutsche Ferienreisende bettete sich auf die Pritsche neben mir. Die Schlafstätte war eng, hart und mit einem Kissen, einem Bettlaken und einer muffigen Steppdecke ausgestattet. Ich legte mich in den Kleidern hin und schlief dann acht Stunden solide durch.

Muttergottes im Taxi

Am frühen Morgen stolperten wir mit holpernden Rollkoffern über eine Baustelle aus dem Bahnhof Hué, und von allen Taxifahrern, die mich draussen bestürmten und umlagerten, wählte ich die einzige Frau, Linh. Sie gab sich als Christin zu erkennen, indem sie eine Statue der Madonna auf das Armaturenbrett gepflanzt hatte.

Etwa acht von rund hundert Millionen Vietnamesen sind katholisch, etwa 20 Millionen buddhistisch; 70 Prozent bezeichnen sich alt Atheisten. Doch ich habe noch selten erlebt, dass das Wiegenfest Christi so zelebriert wird wie hier. Das war nicht immer so. Bis die Franzosen und ihre Missionare das Land ab Mitte des 19. Jahrhunderts eroberten, waren Christen von den vietnamesischen Kaisern verfolgt worden.

In Teilen Vietnams herrschten während mehr als eintausend Jahren kaiserliche Familien. Die letzte war die Nguyen-Dynastie von 1802 bis 1945, die Hué zur Hauptstadt machte. Die Nguyen kollaborierten mit den Franzosen und ab 1941 mit den japanischen Eroberern und wurden nach deren Kapitulation 1945 weggefegt. 143 Jahre Nguyen-Herrschaft genügten aber, um Hué mit zahllosen Unesco-gelisteten Relikten zu verbauen. Da wäre zuerst die Zitadelle und dahinter die Verbotene Stadt, die nur von kaiserlichen Familienmitgliedern und ihren Gästen, von den Konkubinen des Herrschers und den wichtigsten Hofschranzen betreten werden durfte.

Eingangstor Zitadelle in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Heute, im real existierenden Sozialismus, promenieren hier junge Vietnamesinnen in geliehenen herrschaftlichen Gewändern und schiessen Selfies vor den Palästen und Pagoden. So alt, wie die Bauwerke aussehen, sind sie allerdings meist nicht: Der Palast Kien Trung zum Beispiel wurde erst 1921 bis 1923 gebaut.

Frauen vor der Zitadelle in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Pomp und Potenzmittel

Zur kaiserlichen Usanz gehörte, dass man ein Mausoleum für sich selbst in Auftrag gab. Das skurrilste ist jenes von Khai Dinh, dem zwölften, vorletzten Nguyen-Kaiser. Der Bau an einem Abhang, der über eine breite Treppe erklommen wird, steht in seiner Pomposität in krassem Gegensatz zur Bedeutung Khai Dinhs. Dieser war 1916 Kaiser geworden und wurde von den Vietnamesen als «Lakai der Franzosen» verachtet.

Grabmal Kaiser Khai Dinh in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Khai Dhin starb 1925. Er war erst 40, litt an Tuberkulose und war drogensüchtig. In seinem 1931 fertiggestellten Mausoleum wird er als gottgleiche Figur verherrlicht. Das Grab, vor allem aus Beton, Stahl und Schiefer gebaut, ist eine Mischung aus vietnamesischer Tradition und, bei den Franzosen entliehen, Neu-Barock, Neu-Gotik und Neo-Klassizismus. Es ist, um es nüchtern zu konstatieren, ein Monument imperialer Geschmacklosigkeit.

Grabmal Kaiser Khai Dinh in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Gediegener wirkt das Grabmal von Minh Mang, der von 1820 bis zu seinem Tod 1841 regierte. Seine Grabstätte am Westufer des Parfümflusses zwölf Kilometer ausserhalb Hués erstreckt sich über eine Fläche von 15 Hektar und ist in eine liebliche Landschaft mit künstlichen Seen und Pärken eingebettet. Etwa 40 verschiedene Tempel, Pavillons und Tore sind entlang einer zentralen Achse angeordnet.

Minh Mang verfolgte Christen unerbittlich, von denen ihm Hunderte zum Opfer fielen. Bis heute bekannt ist er allerdings für seine 300 bis 500 Konkubinen. Pro Nacht wollte er fünf von ihnen beglücken, sagt der Guide augenzwinkernd, was nur mit Hilfe entsprechender Mittel möglich war.

Grabmal Kaiser Minh Mang in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Einem distinguierten Japaner in unserer Gruppe geht ein Licht auf, als er die Flaschen mit brauner Flüssigkeit sieht, die am Ausgang der Grabanlage angeboten werden. «Minh Mang wird auch in Japan als Potenzmittel verkauft», schmunzelt er. Ein späterer Blick ins Internet verrät, dass Minh Mang unter anderem aus Ginseng, Kordyceps (chinesischer Raupenpilz), Damiana, Maca-Wurzel und Zimt besteht. Ob das Mittel wirkt, konnte ich leider nicht testen.

Nach so viel imperialem Pomp brauchte ich ein Kontrastprogramm und speiste zweimal in einer Strassenküche. Das Essen, einmal gebratener Reis mit Meeresfrüchten, einmal geschmorter Schweinebauch mit Gemüse, war hervorragend, die Bedienung superfreundlich, ein kühles lokales Bier dazu und das Ganze für umgerechnet drei Franken – das nenne ich wirklich kaiserlich.

Mahlzeit in Hoi An, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Das einzige, was mich beim Street Food ebenso nervte wie in fast sämtlichen Läden, Spas, Kaufhäusern, Restaurants und Hotel-Lobbys von Nord bis Süd waren die verkitschten Cover-Versionen von Weihnachtsliedern, die aus jedem Lautsprecher plätscherten und plärrten: «Jingle Bells», «Last Christmas», «Feliz Navidad», «I’ll Be Home for Christmas». Ich mochte sie schon bisher nicht, die Kitschbrüder vom Schlag eines Bing Crosby, José Feliciano oder Frank Sinatra, doch nach diesen Wochen in Vietnam habe ich gelernt, sie richtig zu hassen.

Und dann erst die optischen Entgleisungen: Weihnachtsbäume in den Einkaufszenten und Hotel-Lobbys, Styropor-Schneemänner mit Samichlausmützen in exotischen Gärten; Rentiere mit Weihnachtspaketen auf dem Schlitten – dem schlechten Geschmack sind keine Grenzen gesetzt.

Styropor Schneemänner in Hue, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Unbeschwerte Tage in Hoi An

Von Hué fuhr ich im Bus nach Hoi An. «Hoi An gilt als eine der zauberhaftesten Städte Vietnams», hatte ich in einem Reiseführer gelesen. Und es stimmte. Wenn ich nicht schon die Weiterreise nach Nha Trang organisiert hätte, wäre ich ohne weiteres eine, zwei Wochen geblieben. Am Abend reihen sich am Fluss Song Thu Bon hell erleuchtete Restaurants und Bars aneinander. Wer es noch lockerer mag, deckt sich an einem der zahllosen Essstände mit Leckereien wie gebratenen Fröschen oder geschmortem Oktopus und an einer mobilen Bar mit Drinks ein und setzt sich ans Flussufer. Auf dem Wasser schaukeln Touristenboote, dekoriert mit Laternen in allen Farben.

Mobile Bar am Flussufer-von Hoi An, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Tausende von Laternen erleuchten auch die Szenerie links und rechts des Flusses, und Tausende von glücklichen Menschen flanieren auf der Fluss-Promenade und in der putzigen Altstadt. Deren Wahrzeichen ist die gedeckte japanische Brücke aus dem 16. Jahrhundert, ein dekorativer Hintergrund für Selfies.

Laternen in Hoi An, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Mit dem Zug, diesmal tagsüber, reiste ich in fast zwölf Stunden weiter nach Nha Trang. Die Grossstadt mit weitläufigem Strand ist der Lieblings-Badeort der Vietnamesen. Um es kurz zu machen: Geblieben ist mir die Weihnachtsdekoration am Strand; ansonsten wüsste ich zahllose Badeorte, in denen ich gerade lieber wäre als hier. Deshalb fliege ich weiter, quer übers Land, auf die Insel Phu Quoc. Sie liegt im Golf von Thailand, ist bei chinesischen und russischen Touristen beliebt, und in den Monaten Dezember bis März soll es sonnig und warm sein.

Samichlaus Gefährt in Nah Trang.

Foto: Artur K. Vogel

«Dieser Regen ist ganz ungewöhnlich», beteuert Hotelmanager Tam. Ich sitze im Restaurant meines schönen, modernen Hotels Stella Marina, bin auf dem geliehenen Motorrad bei feuchtheissen 28 Grad im strömenden Regen gerade pitschnass geworden und tröste mich mit einem irischen Whiskey. Aus dem Lautsprecher jault Frank Sinatra «Let it Snow, Let it Snow, Let it Snow!» – Wenn ich wüsste, wen ich würgen könnte, ich würgte ihn.

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