Chum Mey sitzt an einem schattigen Platz beim Mittagessen. Wir haben das ehemalige Schulhaus Tuol Sleng mitten in Phnom Penh besucht, das unter dem kommunistischen Diktator Pol Pot und seinem Terrorregime von 1975 bis 1979 als Gefängnis S-21 berüchtigt wurde. In die Schulzimmer waren winzige Zellen eingebaut; die Gefangenen wurden auf dem nackten Boden angekettet. Ihre Notdurft verrichteten sie in Kanister und Munitionskisten. Als Genozid-Museum soll S-21 die Erinnerung an das düsterste Kapitel der kambodschanischen Geschichte wachhalten.
Foto: Artur K. Vogel
Hier wurden zwischen 12’000 und 20’000 Männer, Frauen und Jugendliche festgehalten und mit Schlägen, Elektroschocks und anderen Foltermethoden traktiert, um Geständnisse zu erpressen. Die Verhöre wurden minuziös protokolliert. Wenn die Gefolterten endlich gestanden, Agenten der CIA zu sein und gegen die kommunistische Partei zu agitieren, und wenn sie Namen weiterer «Verschwörer» nannten, karrte man sie auf Lastwagen zu einem ehemaligen chinesischen Friedhof vor der Stadt. Dort, heute als «Killing Fields» bekannt, wurden sie mit Spaten, Hämmern, Hacken, Bambusrohren oder Macheten erschlagen und in Massengräbern verscharrt.
Chum Mey, mittlerweile 93 Jahre alt, hat S-21 überlebt, was nur sieben Gefangenen gelang. Er hat ein Buch darüber geschrieben, «Überlebende», das in viele Sprachen übersetzt wurde und am Ausgang des ehemaligen Gefängnisses verkauft wird. Dort steht Chum Mey Besuchern Rede und Antwort.
Foto: Artur K. Vogel
Grossspurig und kleinräumig
Auf meiner Reise durch Südostasien, auf der ich inzwischen in Thailand angekommen bin, haben mich Metropolen noch mehr fasziniert als Reisefelder und Ochsengespanne. Frappante Kontraste prägen Millionenstädte wie Hanoi, Ho Chi Minh Stadt (ehemals Saigon) oder Phnom Penh: In den einen Quartieren protzen sie mit Wolkenkratzern, Shopping-Centers, Hotelpalästen, Boulevards, vollgepfercht mit Autos, Minibussen, Tuk Tuks und Millionen von Motorrollern, Pärken und Plätzen mit Denkmälern und Springbrunnen und Prachtbauten aus der Kolonialzeit wie dem Präsidentenpalais in Hanoi oder dem zentralen Postamt in Ho Chi Minh Stadt.
Foto: Artur K. Vogel
In Ho Chi Minh Stadt bestaunt man auf einer Bootsfahrt auf dem Saigon-Fluss die mächtigen Büro- und Wohnsilos, die sich an den Flussufern türmen. Oder man besucht den ehemaligen Palast des südvietnamesischen Präsidenten mit seiner Parkanlage und den sowjetischen Panzern, mit denen die kommunistischen Nordvietnamesen 1975 die Hauptstadt des mit den USA verbündeten Südens eroberten.
In Phnom Penh wiederum schlendert man durch die prachtvolle Anlage des Königspalastes mit ihren golden in der Sonne schimmernden Gebäuden und üppigen Gärten.
Foto: Artur K. Vogel
In anderen Stadtteilen verliert man sich in schmalen Gässchen mit schiefen Häusern, Strassenküchen, Hostels, Gemüseläden, Coiffeuren, Schneidern und dem Gedränge von Menschen, Handkarren, Motorrollern und streunenden Hunden und Katzen. Nimmt man noch den Strassenlärm hinzu, die Musikfetzen, die aus Lokalen schwappen, das Gebell der Hunde und die Geruchsmischungen aus Frittieröl, Gewürzen, Abgasen und Düften, die aus der Kanalisation emporwabern, entsteht ein Amalgam, wie man es nur in Grossstädten findet.
Düstere Erinnerungen
Doch richtig unbeschwert fühle ich mich nicht. Chum Mey ist nicht der Einzige, der die traumatisierende jüngere Geschichte der Region in Erinnerung ruft. Die Franzosen als Kolonialherren und die Amerikaner als Kriegsherren im vergeblichen Kampf gegen den Kommunismus spielten darin besonders üble Rollen. Aber gewisse lokale Machthaber wie Pol Pot übertrafen sie noch an Ruchlosigkeit, Zynismus und Menschenverachtung.
Über das Gefängnis in Hanoi, das «Maison Centrale », das die Franzosen errichteten, um vietnamesische Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen festzuhalten und einige auch zu guillotinieren, habe ich in «Vogel unterwegs (2)» geschrieben. In Ho Chi Minh Stadt dokumentiert das War Remnants Museum (Museum der Kriegsrelikte oder der Kriegserinnerungen) das blutige Kapitel des Krieges, den die Amerikaner gegen Vietnam, Kambodscha und Laos führten.
Foto: Artur K. Vogel
Natürlich ist die Geschichtsschreibung der Sieger immer parteiisch. Aber was die Amerikaner in den zwanzig Jahren zwischen 1954 und 1973 in dieser Weltgegend anrichteten, ist beispielslos. Allein auf Vietnam warfen US-Bomber und Helikopter sieben bis acht Millionen Tonnen Bomben ab, mehr, als im ganzen Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden waren. Um die Truppenpfade und Nachschubbasen der kommunistischen Nordvietnamesen in Laos und Kambodscha zu vernichten, weiteten die USA den Krieg ab 1970 auf die Nachbarländer aus und richteten auch dort massive Zerstörungen an.
Die Verwüstungen und das millionenfache Leid im Vietnamkrieg, gegen den Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre weltweit immer heftiger protestiert wurde, waren letztlich sinnlos; das Ansinnen der Amerikaner, mit ihrer gigantischen Kriegsmaschinerie die Ausbreitung des Kommunismus zu stoppen, ist kläglich gescheitert: Nach dem Friedensschluss von 1973 eroberte Nordvietnam den ganzen Süden und unterwarf ihn der kommunistischen Diktatur. Diese diktiert in Vietnam bis heute die politische Ordnung, während sich wirtschaftlich der ungebremste Kapitalismus durchgesetzt hat. In Laos stürzten die Kommunisten Ende 1975 die Monarchie; auch dieses Land wird seither kommunistisch regiert.
Der Preis für den unsinnigen Krieg war immens: In Vietnam kamen 1,3 bis mehr als drei Millionen Menschen ums Leben, in Kambodscha mindestens eine halbe Million; für Laos gehen die Schätzungen von 20‘000 bis 200‘000 aus. 58‘220 US-Soldaten wurden getötet, 5000 bis 6000 Südkoreaner, mehr als 500 australische und neuseeländische und eine unbekannte Zahl philippinischer und thailändischer Soldaten.
Ein Massenmörder regiert
Besonders grauenhaft waren die Folgen des Vietnamkriegs in Kambodscha: Dort stürzten die Roten Khmer 1975 den mit den USA verbandelten Militärdiktator Lon Nol. Angeführt wurden sie von einem Mann, der seither in einem Atemzug mit den Massenmördern Hitler, Stalin und Mao genannt wird: Pol Pot.
Pol Pot, unter dem Namen Saloth Sar 1925 oder 1928 geboren, wurde in Frankreich ausgebildet und liess sich von den französischen Kommunisten inspirieren, die damals einen stalinistischen, pro-sowjetischen Kurs fuhren. In Kambodscha versuchte er ab 1975, eine klassenlose Gesellschaft in einem autarken Arbeiter- und Bauernstaat zu erzwingen. Die städtische Bevölkerung, Wohlhabende, Lehrer, Beamte, Ärzte wurden als Klassenfeind betrachtet und sollten umerzogen oder ausgemerzt werden.
Daher leerten die Roten Khmer nach der Machtübernahme die Städte. Ihre Bewohner wurden gezwungen, in ländlichen Kooperativen unter extremen Bedingungen zu schuften. Hungersnot und grassierende Krankheiten waren die Folge; Hunderttausende fielen ihnen zum Opfer. Weitere Hunderttausende kamen in den Foltergefängnissen und den mindestens 300 «Killing Fields» auf grausame Art ums Leben.
1979 bereitete Vietnam mit der Invasion Kambodschas dem Wüten von Pol Pot und seiner Bande ein Ende. Der Diktator floh in den Dschungel, lebte teilweise in einem Camp in Thailand und starb 1998 als glücklicher Grossvater. Etwa zwei Millionen Menschen, das heisst ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas, waren seinem Terrorregime zum Opfer gefallen. Doch Pol Pot wurde nie zur Rechenschaft gezogen, ganz im Gegenteil: Die UNO und zahlreiche Länder wie die USA und Grossbritannien anerkannten die Mörderbande noch bis in die 1990er-Jahre als legitime Regierung.
Foto: Artur K. Vogel
Den Peinigern verziehen
Chum Mey am Ausgang des Gefängnismuseums S-21 hat inzwischen sein Mittagessen beendet. Dass er den Gefängnishorror überlebt hat, verdankt er einem Zufall: Eine der Schreibmaschinen, mit denen die Schergen ihre Verhöre protokollierten, war ausgefallen. Chum Mey als ausgebildeter Mechaniker wurde angewiesen, sie zu reparieren, was ihm gelang. Fortan wurde er für allerlei Reparaturarbeiten im Gefängnis eingesetzt, was ihm das Leben rettete.
Er habe seinen Peinigern verziehen, beteuert Chum Mey. «Was ich ertragen musste, war fürchterlich», sagt er. «Aber die Leute, die mich gefoltert haben, waren Opfer wie ich selber, weil sie die Befehle anderer ausführen mussten.» Dann stellt mir der alte Mann eine Frage, die mir drastisch vor Augen führt, wie privilegiert wir sind, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, die uns diese Probe nicht abverlangt: «Hätte ich die Stärke gehabt, mich zu weigern, andere zu töten, wenn die Strafe dafür mein eigener Tod gewesen wäre?»