Man kann in der Luft, auf dem Wasser oder der Strasse von Phnom Penh ins 300 Kilometer nordwestlich gelegene Siem Reap gelangen. Da Phnom Penh meine Fantasie mehr als genug angeregt hat, entscheide ich mich für das fantasieloseste Transportmittel: den Minibus. Für 16 US-Dollar oder 14.50 Franken wird man mit einem Tuk Tuki im Hotel abgeholt und zur Busstation gebracht und, nach etwa fünfstündiger Fahrt im vollen Ford Transit, wiederum ins Hotel gebracht.
In vielen Kambodschanischen Städten gibt es neben Taxis und Tuk Tuks ein alternatives Fortbewegungsmittel, das sich «Remorque» nennt, zu Deutsch «Anhänger». Genau das ist es: ein Motorrad mit einer Anhängevorrichtung, mit der eine kleine Kutsche mit einer oder zwei gepolsterten Sitzbänken gezogen wird. Remorques kosten etwas mehr als Tuk Tuks, sind diesen aber punkto Bequemlichkeit klar überlegen.

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Wundert sich jemand, dass hier von Dollars die Rede ist? Die US-Währung ist in Kambodscha gang und gäbe: Bankomaten geben Noten sowohl in Dollars als auch in lokalen Riels aus, und auf Rechnungen in Läden, Hotels und Restaurants sind meist ebenfalls beide aufgeführt. Während grössere Summen meist in Dollars bezahlt werden, dient der Riel als Klein- und Herausgeld. Von einem kambodschanischen Bekannten wollte ich den Grund wissen. Er meinte, Kambodschaner hätten wegen der sehr bewegten jüngsten Geschichte wenig Vertrauen in die eigenen Institutionen.
Glorreiche Vergangenheit
Das war nicht immer so. Angkor Wat ausserhalb der angenehmen Provinzstadt Siem Reap, das imposante sakrale Bauwerk, zeugt von der imperialen Vergangenheit des Khmer-Reiches Kambuja. Dieses dehnte sich im 12. Jahrhundert nach blutigen Eroberungskriegen auf rund eine Million Quadratkilometer aus. Angkor war Hauptstadt einer regionalen Supermacht, zu der das heutige Thailand und Laos gehörten, dazu Teile von Vietnam, Myanmar und Malaysia. Angkors Tempel wurden zur Verehrung der hinduistischen Götter gebaut (der Buddhismus setzte sich erst im 14. Jahrhundert durch) und drückten das Selbstbewusstsein und den Machtanspruch der Herrscher aus. Das moderne Kambodscha ist um mehr als vier Fünftel geschrumpft.
Die Tempelanlage gilt als einer der Orte, die von Touristen überrannt werden. Wir, zwei aus der Schweiz angereiste Freunde und ich, sind mit einer Remorque hinausgefahren, schlendern nun durch die gepflegte Allee und auf einer breiten, steinernen Brücke über den künstlichen See auf die Tempel zu und sind beeindruckt und angenehm überrascht: Der Ansturm hält sich in Grenzen; wir können die achthundertjährigen, sorgfältig unterhaltenen und restaurierten Schätze in Ruhe betrachten. Nur die Fotos misslingen an diesem diesigen Tag.

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Um die Eindrücke einsinken zu lassen, bummeln wir abends im Stadtzentrum mit seiner französischen Kolonialarchitektur dem Fluss entlang, der von mobilen Essensständen gesäumt ist, bewundern den bombastischen Sonnenuntergang und besuchen den alten Markt. Alles ist hier zu haben, vom Fisch und den Krabben aus dem Tonle Sap See über Früchte und Gemüse, lokal hergestellte, gefälschte Markenklamotten und «Schweizer» Uhren bis zu Schmuck, Lederwaren und Kunsthandwerk. Eine Verkäuferin verlangt 30 Dollar für drei T-Shirts; nach freundschaftlichem Feilschen gehen sie für zwölf Dollar oder 480 Riel in meinen Besitz über.

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Züri Geschnetzeltes und Amok
Das Restaurant «Haven» (auf Deutsch «Hafen»), wo wir zweimal essen, liegt in einer schlecht beleuchteten Nebenstrasse namens Chocolate Road und ist trotzdem gut frequentiert, denn hier speist man hervorragend: Bei Tripadvisor wird es als Nummer zwei von mehr als 1000 Restaurants in Siem Reap geführt, im Guide «Lonely Planet» als «beste Wahl» gepriesen.
Im «Heaven» bereiten Küchenchef Pardet und seine Crew erstklassige Khmer-Küche und westliche Spezialitäten zu. Für Heimweh-Schweizer gibt es Cordon Bleu, (vegetarisches) Züri Geschnetzeltes und Rüeblitorte. Natürlich fehlen die berühmtesten nationalen Gerichte nicht: Lok Lak (marinierte, gebratene Rindfleischstreifen auf Salatblättern, Tomaten, Gurken und Reis, gekrönt von einem Spiegelei) und Amok (ein mit Kokosmilch zubereitetes Curry-Gericht).
Das «Haven»-Menü ist laut der Webseite «gemäss den Anforderungen an die Ausbildung unserer Lernenden und den Vorlieben unserer Gäste» zusammengestellt worden. Denn tatsächlich ist das Lokal mit dem dezent beleuchteten Garten gleichzeitig ein Bildungsprojekt des Schweizer Paares Sara und Paul Wallimann.

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Ein sicherer Hafen
Sara, 48, stammt aus Wil SG, Paul, 56, aus Schübelbach im Kanton Schwyz. «Auf einer Weltreise, die so lange dauern sollte, wie das Geld reichte, fiel uns auf, wie viele Kinder in Kambodscha in Heimen aufwachsen», erzählt Sara. «Wenn sie volljährig werden, fallen sie ohne Ausbildung und ohne Perspektiven aus diesen Programmen und riskieren, auf der Strasse zu landen.» Das war, im Jahr 2008, der Moment, als die beiden realisierten, dass sie in Kambodscha bleiben statt in die Schweiz zurückkehren würden.
Beide waren nie in der Gastronomie tätig. Paul ist gelernter Bäcker-Konditor und absolvierte danach ein Studium zum Lebensmittelingenieur; Sara hat eine Bankausbildung und war Event- und Marketingmanagerin. «Zuerst war uns klar, dass wir Jugendlichen berufliche Fähigkeiten vermitteln wollten», sagt Paul. Nach vielen Gesprächen kristallisierte sich heraus, dass ein Ausbildungsmodell nach dem Vorbild des dualen Systems der Schweiz sinnvoll wäre, und zwar im Gastgewerbe, denn Tourismus hat in Siem Reap Zukunft.

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So entwickelten Sara und Paul Wallimann, die inzwischen die Khmer-Sprache beherrschen, ein Konzept für ein Ausbildungsrestaurant, das sie 2011 eröffneten. «Am Anfang stiess das Konzept auf Unverständnis», erklärt Sara. «Heute kommen Sozialarbeiter und Organisationen mir Vorschlägen auf uns zu» – mit so vielen Vorschlägen, dass Sara die schwierige Aufgabe obliegt, mit Hilfe von Formularen und nach persönlichen Gesprächen mit den Bewerberinnen und Bewerbern jene auszuwählen, die am geeignetsten erscheinen.
Im Oktober 2024 haben wieder 16 junge Erwachsene zwischen 18 und 19 Jahren das 16-monatige Ausbildungsprogramm angetreten, zwölf in der Küche, vier an der Front. Das «Haven» ist zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Mittlerweile arbeiten 21 Festangestellte hier, dazu 16 Lernende. Die 14 Lernenden des vorherigen Jahrgangs waren bei unserem Besuch noch in einem viermonatigen Praktikum engagiert. Seit 2011 haben mehr als 130 junge Leute die «Haven»-Ausbildung absolviert, und alle haben Anstellungen in der Gastronomie und Hotellerie gefunden.
Malerische Wasserlandschaft
Für die Weiterreise nach Battambang 155 km westlich von Siem Reap haben wir drei Copains uns für ein besonderes Verkehrsmittel entschieden, ein gechartertes Boot. Siem Reap liegt in der Nähe des Tonle Sap Sees, des grössten Sees Südostasiens. Der See ist in der Trockenzeit etwa 3000 Quadratkilometer gross, wächst aber im Sommer bis September auf mehr als 10‘000 Quadratkilometer an. (Im Vergleich ist der Bodensee mit 536 Quadratkilometer nur ein grosser Tümpel.)
Der Abfluss des Sees, ebenfalls Tonle Sap genannt, mündet bei Phnom Penh in den Mekong. Wenn dieser, der im Tibet entspringt, in der Monsunperiode und mit Schmelzwasser aus dem Himalaya anschwillt, wird das Wasser des Tonle Sap Flusses zurückgedrängt; der Fluss ändert seine Fliessrichtung, und der Seepegel steigt.

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Auf unserer Bootsfahrt über den See und den Sangke Fluss fühlen wir uns um Jahrzehnte zurückversetzt. Unser grosses Holzboot mit seinen gepolsterten Sitzbänken und einem Bett, das zur Siesta lädt, dürfte schon seit langen Jahren durch diese malerische Wasserlandschaft getuckert sein. Die schwimmenden Dörfer am Sangke, deren Häuser sanft im Rhythmus der Wellen schaukeln, wirken wie aus einer anderen Welt.
Nur die jugendlichen Rowdys sind überall die gleichen: Während sie bei uns früher mit frisierten Mofas, heute mit tiefergelegten Autos die Strassen unsicher machen, brettern sie hier mit schmalen Langbooten über das Wasser. Die rasenden, Gischt aufwerfenden Boote werden von Motoren vorwärtsbewegt, die über lange Stangen Propeller im Wasser antreiben, was wirkt wie überdimensionierte Stabmixer.
Wir lassen die Bilder an uns vorüberziehen: die Fischer, die nachmittags, bis zum Bauch im Wasser stehend, ihre Reusen leeren; Langboote, die als Busse dienen; andere, auf denen Waren transportiert werden. Wir legen an einem schwimmenden Supermarkt an, decken uns mit lokalem Bier und chinesischen Kartoffelchips ein. Und sind am Abend, halt rettungslos von der Zivilisation verdorben, im Hotel in Battambang doch froh um eine kühlende Klimaanlage und eine warme Dusche.

Foto: Artur K. Vogel