Chiang Rai, nicht zu verwechseln mit dem bekannteren Chiang Mai knapp 200 km südlich, ist Thailands nördlichste Grossstadt und wirkt auf den ersten Blick wie ein normales thailändisches Provinzkaff: Fussgänger retten sich zwischen knatternden Tuk Tuks und Motorrollern über die Strassen. Es gibt die üblichen Massagesalons und Bars, aber auf einer viel kleineren Skala als in den einschlägigen Thai-Touristenhochburgen, einen Nachtmarkt, Strassenküchen und an jeder Ecke einen 24 Stunden geöffneten Supermarkt von 7Eleven.
Und trotzdem leistet sich Chiang Rai ein paar Verrücktheiten, die unseren Besuch zu einem unvergesslichen Erlebnis machen, auch wenn sie neuesten Datums sind und so etwas wie ein buddhistisches Disneyland darstellen: Da ist erstens Wat Rong Khun, der so genannte Weisse Tempel. Es wurde vom berühmten Künstler Chalermchai Kositpipat entworfen und 1997 eröffnet. Die filigranen Bauwerke mit ihrer weissen Fassade, verziert mit Tausenden Glasscherben, gleissen in der Sonne und blenden ihre Besucher.

Foto: Artur K. Vogel
Die Architektur des Tempels mit seinen Pagodendächern ist traditionell. Hingegen ist er über und über mit symbolischen Elementen verziert, mit Hunderten Händen, die sich einem entgegenstrecken, mit überdimensionierten Elefantenzähnen, aber auch mit Figuren aus der Popkultur wie Michael Jackson oder Superman. Ich könnte hier tagelang herumstreifen und immer wieder Neues entdecken. Wie Antoni Gaudis Sagrada Familia in Barcelona ist auch Wat Rong Khun längst nicht fertig gebaut.
Ebenso psychedelisch wie der Weisse präsentiert sich der Blaue Tempel, Wat Rong Seur Ten. Er wurde ab 2005 an der Stelle eines verfallenen alten Tempels gebaut. Der Entwurf stammt vom Künstler Phuttha Kabkaew, der zuvor mit seinem Meister Chalermchai Kositpipat am Weissen Tempel mitgearbeitet hatte. Auch der Blaue Tempel ist überschwänglich mit prachtvollen Ornamenten und Statuen bestückt.

Foto: Artur K. Vogel
Hohle Göttin
Drittens besichtige ich in Chiang Rai die gigantische, 70 Meter hohe Statue von Guan Yin, der buddhistischen Göttin der Barmherzigkeit. Die Göttin ist hohl: In ihrem Innern fährt ein Lift 25 Stockwerke hoch. Aus den Fenstern hat man einen umwerfenden Blick auf die hügelige Landschaft, die Reisfelder, die Stadt und vor allem die Tempelanlage unmittelbar neben der Riesenstatue, Wat Huai Pla Kung. Auch deren Pagode beeindruckt: Sie hat die Form einer neunstöckigen Pyramide.

Foto: Artur K. Vogel
Ich bin nicht wegen der Tempel nach Chiang Rai gekommen, sondern weil ich von hier aus auf dem Mekong hinunter nach Luang Prabang in Laos fahren will. Doch zuerst besuche ich das Goldene Dreieck. «Dreieck» deshalb, weil hier Thailand, Myanmar und Laos aufeinandertreffen, und «Golden», weil die Opiumhändler hier eine unerschöpfliche Goldgrube fanden. Denn ab Anfang des 19. Jahrhundert begannen französische und vor allem britische Kolonialisten, das in der Gegend produzierte Opium kommerziell auszubeuten. Die Briten forcierten dessen Verkauf in China und Südostasien, was sich zu einem unermesslichen, grossflächigen Suchtproblem ausweitete.

Foto: Artur K. Vogel
Krieg um das Opium
Grossbritannien führt gegen des Kaiserreich China von 1839 bis 1842 sogar den sogenannten Opiumkrieg, weil chinesische Behörden gewagt hatten, Opiumvorräte britischer Händler zu beschlagnahmen, um den illegalen Opiumhandel zu bekämpfen. Die Chinesen verloren den Krieg und mussten sich dem britischen Diktat unterwerfen.
Nach einer längeren Flaute wurde in den 1950er-Jahren der Grossteil der weltweiten Opiumproduktion in diese Bergregion verlegt, weil die wichtigsten Produzenten China und Iran den Anbau unterbanden. Mehr als zwei Drittel des weltweit verkauften Opiums, ein Grossteil zu Heroin raffiniert, wurde schliesslich in der Gegend produziert. Instabile politische Verhältnisse vor allem in Myanmar (Burma) und Laos forcierten den Drogenhandel zusätzlich, denn aufständische Gruppen ebenso wie Geheimarmeen auf Regierungsseite finanzierten damit ihre Bürgerkriege, und korrupte Beamte füllten ihre Taschen.
Deshalb assoziiere ich mit dem «Goldenen Dreieck» Bilder von rot blühenden Mohnfeldern, Opium rauchenden Indigenen und geheimen Drogenlaboratorien. Tatsächlich ist dies alles Geschichte. In den vergangenen Jahrzehnten wurden der Anbau und Handel von Opium in allen drei Ländern drastisch reduziert. Die betroffenen Länder, besonders Thailand, haben zum Teil erfolgreiche Anstrengungen unternommen, um das Opium durch andere landwirtschaftliche Produkte wie Kaffee, Tee und Macadamianüsse zu ersetzen, welche der lokalen Bevölkerung neue Einnahmequellen eröffnen.
Chiang Saen am Mekong, direkt an der Grenze zu Laos, ist nicht nur eine angenehme Ortschaft mit einer riesigen, goldenen Buddha-Statue. In Chiang Saen zeigt das House of Opium die Geschichte vom Anbau des Schlafmohns über die Produktion des Opiums bis zum Handel, seinen kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen.
Chinesische Retortenstadt
Jenseits des Mekongs stehen die Symbole einer neuen Sucht: Laos hat hier eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet und für 99 Jahre an chinesische Unternehmen verpachtet. Am Flussufer wird eine pompöse Retortensiedlung aus dem Boden gestampft, mit Casinos, Hotels, Wohnblöcken, Schulen und Einkaufszentren. Nichts weniger als ein «neues Macau» soll entstehen. (Die Casinos in Macau selber, in der ehemaligen portugiesischen Kolonie 60 Kilometer westlich von Hongkong, die 1999 an die Volksrepublik China abgetreten wurde, übertreffen inzwischen jene im amerikanischen Spielerparadies Las Vegas: Im ersten Quartal 2025 beliefen sich die Bruttoeinnahmen aus Glücksspiel in Macau auf rund 7,2 Milliarden Dollar, in Las Vegas auf geschätzte 4,5 Milliarden, wie einschlägigen Publikationen zu entnehmen ist.)
Hier, mitten in der laotischen Pampa, ist alles chinesisch: Die Arbeiter und Angestellten, die Besitzer der Hotels, der Geschäfte und des Kings Romans Casinos, dessen Bau rund eine halbe Milliarde Dollar kostete. Die Gäste stammen ebenfalls zu grossen Teilen aus der Volksrepublik, woher auch fast sämtliches Baumaterial für die neue Retortenstadt angeliefert wurde. Der internationale Flughafen Bokeo wurde von der Greater Bay Area Investment and Development Limited aus Hongkong finanziert und gebaut und kostete rund 225 Millionen Dollar.
In Thailand munkelt man, dass die Sonderwirtschaftszone auch ein Hotspot für Cyberbetrug ist: Dass hier Heere von jungen Menschen, zum Teil wie Sklaven gehalten, mit allen raffinierten Betrugsmethoden und Maschen versuchen, gutgläubige Internet-Nutzer um ihr Geld zu bringen.
Slow Boat nach Luang Prabang
Ich lasse mich von den Chinesen und ihren komplexen Machenschaften nicht beeindrucken, sondern gebe mich lieber den simplen Erlebnissen hin. Vom Goldenen Dreieck bin ich mit einem Minibus an die thailändisch-laotische Grenze gefahren, wobei wir vor der Einreise nach Laos eine kuriose Kreuzung überquert haben: In Thailand herrscht nämlich Links-, in Laos Rechtsverkehr, also muss die Strassenseite gewechselt werden, ohne dass es dabei zu Kollisionen kommt.
An einem improvisiert wirkenden Pier im laotischen Städtchen Huay Xai besteige ich ein so genanntes Slow Boat, ein langes, hölzernes Schiff, das mich zusammen mit einheimischen Reisenden und Rucksacktouristen in einer zweitägigen Fahrt auf dem braunen Wasser des Mekong nach Luang Pabang bringen wird.

Foto: Artur K. Vogel