• Vogel unterwegs (3)

Einschneidende Erlebnisse in Vietnam

Nach dem aufregenden Hanoi fährt Artur aufs Land. Das Naturreservat Pu Luong und die Provinz Ninh Binh stehen auf dem Programm. Artur drosselt das Tempo und will mit der Natur verschmelzen, was er eines Tages etwas zu wörtlich nimmt.

Einschneidende Erlebnisse in Vietnam

Nach Tagen in Hanoi ist eine Atempause fällig. Normalerweise würde man jetzt zur Halong-Bucht im Golf von Tonkin fahren. Sie wird in Reiseprospekten als «atemberaubendes Naturwunder» angepriesen, besteht aus mehr als 2000 Kalksteininseln und -felsen, die steil aus dem Wasser ragen, und ist von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt worden.

Aber die Bucht ist auch ein Magnet für Massentourismus. Ich werde mich diesem bewusst aussetzen – an Weihnachten im Tempelkomplex von Angkor Wat in Kambodscha. Aber momentan habe ich kein Bedürfnis nach Menschenmassen. Rose, die Tour-Organisatorin im Hotel Du Palace in Hanoi, weiss Rat: «Fahr nach Pu Luong! Da kommst du zur Ruhe», verspricht sie. Pu Luong ist ein Naturschutzgebiet von der Grösse Appenzell-Innerrhodens und ebenfalls zu erheblichen Teilen bewaldet.

Das Dorf Pu Luong, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Der Minibus braucht etwa drei Stunden für die rund 150 Kilometer Richtung Südwesten. Schliesslich hält er am Dorfrand von Don vor dem Gateway Inn, das mich sofort einnimmt: ein grosses Holzhaus wie eine afrikanischen Safari-Lodge mit einer Terrasse mit Sicht auf das nebelverhangene Tal.

Mein Zimmer – Preis 20 US-Doller pro Nacht; in Vietnam rechnet man manchmal auch in der Währung des ehemaligen Feindes – ist geräumig; über dem Bett schweben Moskitonetze. Was ich noch nicht weiss: Das Haus ist so leicht gebaut, dass man jedes Geräusch hört, das Schreien eines Babys, einen Ehestreit, das Klappern von Töpfen in der Küche und die Busse, Lastwagen und Motorräder, die beim Vorbeifahren freudig hupen. Abends bekomme ich einen Crashkurs zur Herstellung eines Papayasalates und danach ein üppiges Mahl mit Schwein, Rind, Gemüse, Nudeln, Reis, Knoblauchbrot und Wassermelonen.

Hotel Gateway, Region Pu Luong inVietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Aale, Frösche und Enten

Am nächsten Morgen holt uns Quoc ab, unser 33-jähriger Tourguide. Eine vietnamesische Familie aus Hanoi gehört zur Gruppe, eine Biologielehrerein aus Singapur namens Lisa und ich. Gemächlich wandern wir ins Tal hinunter, vorbei an Reisfeldern, die geometrisch die Ebene unterteilen, an Reisterrassen an den Hängen bis hinauf an die Ränder des Urwaldes.

Region Pu Luong, Vietnam, Reisfelder.

Foto: Artur K. Vogel

Während in den fruchtbaren Deltas des Roten Flusses oder des Mekong bis zu vier Reisernten im Jahr möglich sind, gibt es hier nur eine: Aussaat im Februar, Ernte im Juni. In der Zwischenzeit wird Mais angebaut, Gemüse oder Getreide. Enten schwimmen auf den überfluteten Flächen, Reiher stochern im Trüben. Eine Frau siebt kleine Fische aus dem Schlamm, die frittiert oder gekocht und als Ganzes gegessen werden. Kinder suchen nach Aalen und Fröschen, auch sie eine willkommene Abwechslung im Speisenplan.   

In einem schönen Dorf namens Lan hängen vor fast jedem Haus bunte Schals und Stoffe. Die Mädchen lernen schon früh weben, eine mühsame Arbeit an Handwebstühlen.

Eine Weberin, in der Region Pu Luong, Vietnam.

Foto: Artur K. Vogel

Hinten auf dem Motorrad

Am nächsten Tag bin ich Quocs einziger Gast. Er holt mich mit dem Motorrad ab; ich schwinge mich hinten auf den Sattel, und der Töff keucht auf steilen Feldwegen die Berge hoch, wo wir die Aussicht geniessen. Dann fährt mich Quoc in das kleine Dorf Hang, woher er stammt und wo sein Haus steht, ein traditioneller Bau auf Pfählen.

Region Pu Luong, Vietnam, Herr Quoc mit Motorrad.

Foto: Artur K. Vogel

Am Dorfeingang geht eine Frau gebeugt unter einem schweren Ast, den sie nach Hause schleppt, wo er zu Brennholz zerkleinert wird. Es ist Quocs Mutter. Sein 61-jähriger Vater hingegen ist krebskrank und kann sich kaum noch bewegen. Unter demselben Dach leben auch Quocs 23-jährige Frau und die zweijährige Tochter. Während Quoc in Hanoi in der IT-Branche tätig war und zurück aufs Land kam, um den Vater zu pflegen, arbeitete seine Frau in einem Hotel in Pu Luong, wo er sie kennenlernte.

Region Pu Luong in Vietnam, Herr Quoc mit Haus.

Foto: Artur K. Vogel

Wir fahren weiter zu den riesigen Wasserrädern. Sie sind eine uralte, geniale und immer noch funktionierende Einrichtung an den Flüssen und Bächen, um Wasser auf die Reisefelder umzuleiten. Dann gehen wir in der Nähe des Dorfes Kho Muong 110 in den Felsen gehauene Stufen hinauf zur Fledermaushöhle Hang Doi, die mehr als 250 Millionen Jahre alt ist.

Auf die Schnauze gefallen

Beim Abstieg hinunter zum Bach, wo unser Motorrad stand, geschah es. Eine Wurzel lugte aus dem Boden. Mein Fuss verhakte sich, und ich fiel mit dem Gesicht voran ins Gebüsch. Das linke Glas der Brille zersplitterte. Die Scherbe hätte ins Auge gehen können, doch sie riss, einen Zentimeter unterhalb, ein dreieckiges Loch in die Wange. Verrückt, dass man aus einer solch kleinen Wunde so heftig blutet wie ein abgestochenes Ferkel.

Zugute kam mir, dass Quoc, der diplomierte IT-Ingenieur, sich auch mit Naturmedizin befasst. Er zupfte Blätter von einem bestimmten Strauch, zerkaute sie und legte die Masse auf meine Wunde. «Das stoppt die Blutung», versprach er, und tatsächlich hörte das rote Rinnsal wenig später auf.

Quoc brachte mich ins Spital des Dorfes Pho Doan, das mich an ländliche Krankenstationen in Afrika erinnerte. Ein junger Arzt stülpte sich Operationshandschuhe über, reinigte die Wunde, desinfizierte sie und klebte mir einen riesigen weissen Verband ins Gesicht, der in den nächsten Tagen etwelche mir völlig unbekannte Vietnamesinnen und Vietnamesen zu besorgten Fragen veranlasste. So hilft einem sogar ein geschundenes Porträt zu sozialen Kontakten.

Artur K. Vogel wird verarztet.

Foto: Artur K. Vogel

Der Arzt gab mir Verbandsmaterial, Schmerz- und Desinfektionsmittel, Watte und sogar Latex-Handschuhe mit. Ich überlegte, die Reiseversicherung einzuschalten, bevor er mir die Faktura über 130’000 Dong präsentierte. Bei der AXA hätte man sich krummgelacht, wenn ich diesen Betrag in Rechnung gestellt hätte: vier Franken und fünfundfünzig Rappen.

Seen, Pagoden und schlechtes Essen

Am nächsten Vormittag gab ich mich dem Selbstmitleid hin, bevor mich ein Minibus abholte und, zusammen mit Chrissie, einer Sozialarbeiterin aus Leipzig, nach Tam Coc in der Provinz Ninh Binh brachte, 130 Kilometer südöstlich von Pu Luong und knapp 100 Kilometer südlich von Hanoi.

Die Provinz Ninh Binh liegt im Delta des Roten Flusses, der in der chinesischen Provinz Yunnan entspringt und sich nach 1150 Kilometern in den Golf von Tonkin ergiesst. Die Region wird «Halong-Bucht auf dem Land» genannt, weil auch hier majestätische Felsen aus den Reisfeldern und Seen emporragen. Der sehr lebendige Ferienort Tam Coc mit Hunderten von Restaurants, Hostels, Souvenirläden und Massagesalons liegt am gleichnamigen See. In einer Apotheke erneuerte eine freundliche, ältere Apothekerin an drei Abenden hintereinander meinen Verband; die Wunde heilte gut, bald brauchte ich nur noch ein Heftpflaster.

Die Fläche hinter einem historisierenden Eingangstor von Hoa Lu, der ehemaligen Hauptstadt Vietnams aus dem 10. Jahrhundert, ist zwar riesig; viel steht hier aber nicht mehr ausser einem kleinen, hölzernen Tempel, der vor 400 Jahren neu gebaut wurde.

Provinz Ninh-Binh, Vietnam. Einganstor-zur alten Hauptstadt-Hoa-Lu.

Foto: Artur K. Vogel

Die Bai Dinh Pagode hingegen, die grösste buddhistische Tempelanlage Vietnams, ist gigantisch. Weisse Buddha-Statuen, nur dort schwarz poliert, wo sie von den Gläubigen trotz explizitem Verbot angefasst werden, aufgereiht in nicht enden wollenden Gängen, Tempel, Türme, Treppen. Hier sind, wie ein Fahnenwald beweist, Buddhismus, Kommunismus und Nationalismus friedlich vereint. Doch was alt aussieht, wurde erst in den vergangenen zwanzig Jahren gebaut.

Provinz Ninh-Binh, Vitnam mit weissen Buddhas.

Foto: Artur K. Vogel

Auf dem Trang-An-See und tags darauf auf jenem von Tam Coc erleben wir die Entschleunigung: Auf Ruderbooten gleiten wir vorbei an mächtigen, steilen Felsen und schwimmenden Lotus-Teppichen, fahren durch Kavernen, steigen auf Inseln mit Tempeln, Toiletten und Souvenirverkäuferinnen aus. Die meisten Bootsleute auf dem Tam-Coc-See rudern mit den Füssen, was ein komischer Anblick ist, ebenso wie unsere Fuhr: Die junge Ruderin ist schmächtig; Zoran aus Serbien und ich als Passagiere sind massig und übergewichtig, was auf anderen Booten etwelches Gelächter hervorruft.

Provinz Ninh-Binh, Vietnam am Tam Coc See.

Foto: Artur K. Vogel

In krassem Kontrast zur natürlichen Erhabenheit der Region Ninh Binh stehen die beiden Mittagessen, die uns auf der Tour vorgesetzt werden. Vietnamesisches Essen ist meist frisch, abwechslungsreich, fantasievoll und obendrein günstig: Für fünf, sechs Franken, ein lokales Bier inklusive, kann man sich eine wunderbare Mahlzeit servieren lassen.

Das Cozy Vietnam Restaurant beweist, dass es auch anders geht: Die menschliche Ladung von neun Tourbussen ergiesst sich fast gleichzeitig in das Lokal, das (von wegen «cozy», also «gemütlich» oder «behaglich») den neonbeleuchteten Charme einer Bahnhofshalle aus den 1960er-Jahren verströmt. Am Buffet gibt es ein Gerangel, Gedränge und Gestosse, aber man fragt sich, warum: Das Essen, von Frauen in riesigen Eimern herbeigetragen und auf dem Buffet in Behältnisse umgeschüttet, schmeckt nach nichts. Die wunderschöne Gegend von Ninh Binh erlebt hier ihre banale Antithese.

Provinz Ninh Binh, Vietnam, Restaurant Cozy.

Foto: Artur K. Vogel

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