Inzwischen habe ich mich in Hanoi eingelebt und entdecke die Stadt in all ihren Facetten. Beim idyllischen Hoan-Kiem-See am Rand der Altstadt wurde Hanoi, die «Stadt zwischen den Flüssen» (so die Übersetzung), vor mehr als tausend Jahren gegründet. Die Altstadt ist schrill. Jedes Restaurant, jedes Reisebüro, jeder Supermarkt, jedes Souvenirgeschäft, jeder Massagesalon (nein, kein schmieriges Lächeln bitte! Hier heisst «Massage» wirklich das, und nur das) wirft sich dem potentiellen Kunden mit grellen Neonreklamen entgegen. Und an jeder Ecke wird Gegrilltes, Geschmortes, Gebackenes und Frittiertes angepriesen.
Hanoi liegt nicht nur an zwei Flüssen; in der Stadt gibt es auch 18 Seen, wobei der Hoam-Kiem-See der romantischste ist. Hier tummelt sich das Jungvolk, Liebespaare halten Händchen, Familienväter kaufen ihren Kindern Eiscrème, und es herrscht, verglichen mit dem chaotischen Gewusel anderswo in der Stadt, eine relative Ruhe. Auf einer künstlichen Insel im See steht die Ngoc Son-Pagode. Man erreicht sie über eine auffällige rote Brücke. Die Brücke, sagt mir eine Passantin, symbolisiert den Übergang zwischen der irdischen und der geistigen Welt.
Foto: Artur K. Vogel
Der grösste See von Hanoi ist der Westsee. An seinem Ufer liegt Tran Quoc, die älteste Pagode der Stadt. Sie wird von unserem Guide als spirituelles Zentrum Vietnams angepriesen. Gärten, steinerne Brücken und viele reich verzierte Türme bilden ein attraktives Ensemble, was neben betenden Gläubigen auch Heerscharen von Touristen anlockt.
Freiheit und Menschenwürde
Vietnamesen und vor allem Vietnamesinnen sind äusserst fleissig, und die Privatwirtschaft boomt, seit sie 1986 offiziell wieder zugelassen worden ist. Doch muss der Staat an jeder Ecke unterstreichen, dass das politische System nach wie vor kommunistisch ist. Überall baumeln Nationalflaggen, gelber Stern auf rotem Grund, und, in denselben Farben, auch Hammer und Sichel als Emblem der Partei.
Während im Alltag weder Gleichheit noch Brüderlichkeit herrschen, sondern jede und jeder um seinen Platz kämpft, muss man beim Anstehen zum Mausoleum des Präsidenten Ho Chi Minh jede Individualität ablegen. Man wird zum winzigen Bestandteil einer amorphen, unübersehbaren Menschenmasse, die sich 45 Minuten lang kaum bewegt, wobei es nur darum geht, eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen zu durchqueren. Aber man wird auch daran erinnert, dass man nur ein winziges Rädchen in einem übergeordneten Getriebe ist.
Foto: Artur K. Vogel
«Ho Chi Minh hat uns die Freiheit und die Menschenwürde zurückgegeben», sagt Ruby. Sie arbeitet in einem Tourbüro in der Altstadt, ist 27 Jahre alt und hat die bewegte Geschichte ihres Landes gar nicht miterlebt. Nicht den von den USA geführten Vietnamkrieg zwischen 1955 und 1973, nicht den Befreiungskrieg gegen die französischen Kolonialisten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Land unterdrückten, nicht die japanische Besetzung zwischen 1941 und 1945. (Zwischenbemerkung: Wer Geschichte öd findet, soll die nächsten vier Abschnitte überspringen.) Vietnam war gut eintausend Jahre lang, von 938 bis 1945, ein Kaiserreich. Doch ab 1858 wurde das Land durch die Franzosen kolonialisiert, von 1941 bis 1945 von Japan besetzt.
Im Krieg gegen die Franzosen und später die Amerikaner wurde Ho Chi Minh, seit 1945 Präsident von Nordvietnam, zum Volkshelden. Er wird noch heute liebevoll «Onkel Ho» genannt, erlebte den definitiven Sieg aber nicht mehr: 1969 starb er, der ein starker Raucher gewesen war, mit 79 Jahren an Lungenkrebs. Sofort nach seinem Tod liessen die Funktionäre sowjetische Spezialisten für die Einbalsamierung von Leichen einfliegen.
Foto: Artur K. Vogel
In seinem Mausoleum im pompösen sowjetischen Stil kann man Ho Chi Minh deshalb beim Vorbeigehen betrachten, als ob er gerade eben das Zeitliche gesegnet hätte. Zwei Minuten stehen für die Leichenschau zur Verfügung; bewacht wird die Mumie von strammstehenden Soldaten in weissen Gala-Uniformen mit Karabinern und aufgepflanzten Bajonetten. Gottseidank sind wir nicht nur für diese zwei Minuten drei Viertelstunden angestanden. In den weitläufigen Parkanlagen rund um das Mausoleum können wir auch die einfachen Wohnhäuser Ho Chi Minhs, den Präsidentenpalast (von den Franzosen einst als Sitz ihres Gouverneurs erbaut) und das Gebäude des Premierministers im modernen sozialistischen Stil erkunden.
Foto: Artur K. Vogel
Ein Tempel der Weisheit
Als Mensch, der fast sein ganzes Leben lang mit Wörtern gearbeitet hat, war ich auf den Tempel der Literatur besonders gespannt. Der Ort war die erste Universität in Vietnam, ein paar Jahre älter noch als die Universitäten von Bologna (gegründet 1088) und Oxford (ca. 1096) – was wieder einmal belegt, dass unser europäischer Überlegenheitsdünkel nicht angebracht ist. Im Literaturtempel durften nur die Söhne der königlichen Familie, der Aristokratie und der hochrangigen Hofbeamten studieren. Mit einer heutigen Uni lässt er sich also nicht vergleichen.
Foto: Artur K. Vogel
Sobald wir das Tor durchschritten haben, wird die Atmosphäre ruhig und entspannt. Man wandelt durch fünf ummauerte Innenhöfe mit reich verzierten Gebäuden. Der Ort der Weisheit stützte sich auf die Lehren des Chinesen Konfuzius, der im 6. bis 5. Jahrhundert vor Christus lebte und wirkte. Eine Reihe berühmter Wissenschaftler und Lehrer ging aus dem Tempel der Literatur hervor. So lernt jedes vietnamesische Kind in der Schule die Geschichte des grossartigen Lehrers Chu Van An (1292 bis 1370) kennen, der eine Karriere als hochrangiger Mandarin am kaiserlichen Hof und als Vorsitzender des Tempels der Literatur aufgab, um die Kinder in seinem Heimatdorf zu unterrichten.
Foto: Artur K. Vogel
Die Hölle auf Erden
Zurück zur Geschichte Vietnams, aus der ein schockierendes Kapitel im Hoa-Lò-Gefängnismuseum erzählt wird. Die Franzosen erbauten ihr «Maison Centrale», wie der Knast euphemistisch genannt wurde, Ende des 19. Jahrhunderts, um politische Gefangene einzusperren. Die Insassen waren zu Dutzenden an die Wände und Böden gefesselt, wurden routinemässig gefoltert, weibliche Gefangene vergewaltigt, und lebten unter entsetzlichen Bedingungen. Zum Tod Verurteilte wurden mit der Guillotine direkt im Gefängnis geköpft.
Foto: Artur K. Vogel
Nachdem die Franzosen 1954 aus Vietnam vertrieben worden waren, nutzten die Kommunisten den schrecklichen Ort zur Inhaftierung politischer Gegner und ab 1964 bis 1973 für amerikanische Kriegsgefangene. Die bekanntesten von ihnen waren John McCaine, der spätere republikanische Senator und erfolglose Gegenkandidat gegen Barack Obama bei der Präsidentenwahl 2008, und Pete Peterson, der 1997 erster US-Botschafter in Hanoi wurde. McCaine wurde 1967 auf einer Bombermission über Hanoi abgeschossen.
Im Gefängnismuseum wird behauptet, die Vietnamesen hätten die Amerikaner human behandelt – im Gegensatz zur unfassbaren Brutalität der Franzosen gegen die vietnamesischen Gefangenen. Laut Berichten McCaines stimmt das nur bedingt. Trotz schwerer Verletzungen beim Absturz erhielt er nur minimale medizinische Versorgung; zudem war er Folter und psychologischer Manipulation ausgesetzt und wurde von den Wachen zusammengeschlagen.
Es gibt aber auch zu diesem trüben Kapitel der Menschheit eine ironische Pointe: In den 1990er-Jahren liess die Regierung etwa 80 Prozent des Gefängniskomplexes abreissen. An dem Ort, den die Vietnamesen «Hölle auf Erden» nannten und die US-Kriegsgefangenen «Hanoi Hilton», steht jetzt ein immenser Betonklotz. Dabei handelt es sich tatsächlich, wenn auch nicht um ein «Hilton», so doch um ein Hotel.
Foto: Artur K. Vogel