Mitternacht im Barafu Camp auf 4640 Metern. Elias rüttelt an meinem Zelt. Unser Berg-Butler streckt mir eine Tasse Kaffee entgegen – den ersten Schub Energie für die Besteigung des 5895 Meter hohen Kilimandscharo. Es ist eine wolkenklare Vollmondnacht. Wie Glühwürmchen tanzen die Stirnlampen der anderen Seilschaften in der Ferne. Silbern liegt die Sand- und Stein-Ödnis vor uns. Schwarz erhebt sich der Gipfel vor einem indigofarbenen Himmel wie der Herrscher der Welt. Die Szenerie ist urgewaltig. Was für eine perfekte Nacht für den Gipfel.
Und während mich der Kaffee wärmt, denke ich an meine Tage als Geografiestudent zurück. Damals, vor 23 Jahren, vergeigte ich eine Prüfung wegen der Frage: «Aus welcher Richtung weht der Wind auf dem Kilimandscharo?» Dem Professor, der eine Erklärung zum Windsystem am Äquator erwartete, rief ich entgegen: «Sie werden sehen, eines Tages werde ich da oben stehen!» In wenigen Stunden könnte es so weit sein. Was das Leben nicht für wunderliche Purzelbäume schlägt.
Seit vier Tagen sind wir (der einheimische Fotograf Fabian, der die Abenteuer des weit gereisten Journalisten für die lokalen Tour-Operator festhalten soll, unsere 13 Mann starke Truppe aus Trägern und Bergführern und ich) am Kilimandscharo-Massiv unterwegs.
Foto: TravelMagazin
Wir haben die Lemosho-Route gewählt, die wegen ihrer teils steilen Passagen als anstrengendste, aber auch als schönste gilt. Es geht durch den Dschungel, über Ebenen, die mit riesigem Heidekraut überwuchert sind, und durch Täler, in denen Bäume stehen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Palme oder Kaktus sein wollen – und das im Schneckentempo. Akklimatisation heisst das Zauberwort. Und diese fordert vor allem eines: Zeit. Je länger man sich auf 4000+ Metern aufhält, desto besser kann sich der Organismus auf den geringen Sauerstoffgehalt einstellen. Auf dem Uhuru-Gipfel bei knapp 6000 Metern werden nur noch 50 Prozent Sauerstoff durch die Luft schweben – das verlangt Höchstleistung vom Körper. Puls und Atmung rasen: Der Körper versucht mit allen Mitteln, mehr Sauerstoff durch das System zu pumpen.
Bis jetzt habe ich die Höhe gut gemeistert, an diesem Gipfeltag aber fordert sie ihren Tribut: Mir ist schlecht wie auf einem wackeligen Kahn. Stanford (42) und Exaud (51), die beiden Bergführer, checken unseren Zustand, wie an jedem Tag auf unserer Expedition. Das leichte Unwohlsein sei kein Problem, so Stanford, der schon mehrere Hundert Mal auf dem Kilimandscharo stand. Sorge bereite ihm dagegen mein Sauerstoffgehalt: 79 Prozent zeigt der Oximeter. «Ich hatte gehofft, es seien ein wenig mehr.» Ich stehe auf und pumpe meine Lunge voll. Der Wert klettert auf 84 Prozent. Besser!
Mittlerweile ist es kurz nach 1 Uhr, wir brechen auf. Mathew, der Träger, kommt auf mich zu. «Wir Träger haben beschlossen, dir ein kleines Geschenk zu machen: Ich werde mitkommen und deinen Rucksack tragen.» Das war so nicht besprochen.
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Mathew ist einer von elf Portern, die in den vergangenen Tagen jeweils 30 Kilogramm Ausrüstung den Berg hochschleppten: mein Equipment, Zelte, Tisch und Stühle, die Küchengerätschaften, die Gasflasche und das gesamte Essen für insgesamt 15 Mann. Sie sind die wahren Helden unseres Abenteuers. Sein Angebot rührt mich. Ich reiche ihm meinen Rucksack. «Ich hoffe, der ist nicht zu schwer.» Da kann Mathew nur grinsen: «Das Gewicht ist für Babys.» Das kann nur jemand sagen, der in der Hochsaison bis zu drei Mal im Monat den Kilimandscharo besteigt. Für alle anderen ist der Gipfeltag ein Gewaltmarsch, bei dem man die Belastungsgrenzen sprengt. Die dünne Luft ist nicht gemacht für Kraftanstrengungen. Deshalb gibt Stanford ein Marschtempo in Superzeitlupe vor. Schritt —- Schritt —- Schritt. Manchmal müssen wir über Felsen klettern. Das lässt mich nach Luft japsen wie beim Joggen.
Beharrlich kämpfen wir uns voran – aber es könnte auch anders sein. Denn es kommen uns immer mehr Bergsteiger entgegen, die es nicht geschafft haben, junge, kräftig aussehende Frauen und Männer, die 20 Jahre jünger sind als ich. Wenn die kapitulieren, was ist dann mit mir? Nicht daran denken: Weiterlaufen, weiterschleichen wie eine Schnecke. Die Stunden ziehen sich in die Länge wie Kaugummi. 5000 Meter (ein Teilerfolg!), 5200 Meter, 5300 Meter. Bei 5600 Metern flackert der erste orangene Schimmer am Horizont auf. Kurz darauf küssen Sonnenstrahlen mein Gesicht. Ich schmettere Queen vor mich hin: «It’s a beautiful day, the sun is shining. I feel good. And no-one’s gonna stop me now, oh yeah!»
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Endorphine pulsieren durch meine Adern, was die nächsten Meter etwas leichter macht. Dennoch dauert es noch über eine Stunde, bis wir kurz nach 7 Uhr den Kraterrand erreichen. Nach zähen sechs Stunden und 1100 Höhenmetern stehen wir am Stella Point auf 5765 Metern. Mir geht es verblüffend gut. Kopfschmerzen habe ich keine, nur der Magen drückt. Auf der anderen Seite des Kraters ist der Uhuru Peak zu sehen. «Nur noch eine Stunde», sagt Stanford. «Das schaffst du.»
Aber der letzte Kilometer ist die Hölle, auch wenn es kaum eine Steigung zu überwinden gibt. Der gesamte Sauerstoff scheint sich aufgelöst zu haben. Meine Energie zerschmilzt wie die Gletscher, die hier oben gegen den Klimawandel kämpfen. Fabian und Exaud sind weit hinter uns. Ich will warten. «Weiterlaufen, Christian!», drängt Stanford. Er weiss, ich würde nicht mehr hochkommen, würde ich mich auf den Hosenboden setzen. Schritt ——- Schritt —— Schritt. Unser Tempo ist kaum messbar.
Um 8.11 Uhr ist es dann geschafft. Stanford, Mathew und ich haben den Uhuru Peak erreicht. Unglaubliche 5895 Meter über dem Meer. Ich stehe vor den schiefen Brettern, die den höchsten Punkt Afrikas anzeigen, und warte auf das Glücksgefühl. Aber da kommt nichts. Mir ist schlecht und ich bin nudelfertig – da ist kein Platz für andere Gefühle. Erst als ich mich hinsetze und eine Viertelstunde ausruhe, realisiere ich langsam, was ich da geschafft habe. Was vor 23 Jahren als Jux begonnen hat, ist Realität geworden: Ich stehe auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Erschöpfung, Erleichterung und eine immense Freude vermischen sich zu einem seltsamen Gefühlsmix. Und während ich Mathew und Stanford um den Hals falle, kullern mir Tränen übers Gesicht.
Woher der Wind weht? Keine Ahnung: Heute ist es windstill.
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