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Artur stürzt sich ins Abenteuer

Artur hat seine Wohnung gekündigt, seinen Hausrat verschenkt und reist mit bescheidenem Budget und ohne Rückflugticket seit November durch Südostasien. Wir begleiten ab jetzt unseren erfahrene Reisejournalisten auf seinem neuen Abenteuer!

Artur stürzt sich ins Abenteuer

«Steckst du in der Midlife-Crisis», wollte ein lieber Bekannter wissen. Schön wäre es: Ich müsste dann, über den Daumen gepeilt, 143 Jahre alt werden, was, bei allem Optimismus, eher unwahrscheinlich erscheint. Der Grund für die ironisch gemeinte Frage waren meine Reisepläne, die ich vor etlichen Monaten im Bekannten- und Familienkreis allmählich durchsickern liess: Ich wollte verreisen, aber richtig. Obwohl theoretisch seit fast sieben Jahren pensioniert, hatte ich voll weitergearbeitet und steckte im alten Arbeitstrott. Aus diesem wollte ich endlich ausbrechen, und das konnte ich nicht, wenn ich in der Schweiz blieb.

Zum Aufbruch gehörte das Abwerfen von Ballast. Wofür braucht der alleinlebende Mensch eine 80-Quadratmeter-Wohnung, 4500 Bücher, zwei Tische mit elf Stühlen, zwei Sofas, ein Dutzend Anzüge, die er kaum mehr trägt, unzählige, wirklich unzählige Hemden und dazu schätzungsweise einhundert Krawatten, die er nie mehr umbindet? Die Antwort: Er braucht sie nicht. Hingegen lasten sie auf seinem Buckel wie ein übergewichtiger Rucksack, den er nicht abwerfen kann.

Konsequenter Entscheid

Die Lösung fiel schliesslich konsequent aus: Die Wohnung in einem schönen, langweiligen Quartier der Bundesstadt wurde gekündigt. Die Töchter, Freundinnen und Freunde konnten alles mitnehmen, was sie wollten. Möbel, Bilder, Bücher. Der Weinkeller wurde verkauft. Was übrigblieb und keinen emotionalen Wert hatte, wanderte ins Brockenhaus. Ein kleiner Rest, die wichtigsten Bücher, Bilder und Kleider, sind jetzt im Depot. Der erste Befreiungsschlag ist gelungen.

Nach und nach verabschiedeten sich die Freundinnen und Freunde. Einige waren besorgt, dass ein alter Knacker wie ich sich in ein solches Abenteuer stürzt. «Da unten ist die medizinische Versorgung nicht so gut wie bei uns.» Weiss ich natürlich. Ich habe entsprechende Versicherungen abgeschlossen, aber ich bin mir meiner Sterblichkeit bewusst; in meinem Alter kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren. Andere waren neidisch, weil sie entweder noch in Arbeitsprozesse eingespannt sind oder sich, falls schon im Pensionsalter, nicht getrauen. Und dann gab es auch die, die den Entscheid schlicht irrwitzig fanden.

Schmetterlinge im Flughafen

Der zweite Befreiungsschlag begann ziemlich mühsam: Am 18. November um 10:35 Uhr startete die Boeing 777 der Singapore Airways in Zürich. Letztes Mal, als ich die Strecke geflogen war, hatten sie noch einen Airbus A 380 eingesetzt, was bedeutend mehr Stil hatte, aber sei’s drum. Elfeinhalb Stunden in der Economy sind in keinem Flugzeugtyp besonders erfrischend. Immerhin hatte ich einen Gang-Sitz beim Notausgang mit unbeschränkter Beinfreiheit ergattert. Dafür stolperten die Flight Attendants nachts wiederholt über meine ausgestreckten Füsse.

Ein Aufenthalt von vielen Stunden im Flughafen Changi in Singapur folgte. Flughäfen sind nicht mein liebster Aufenthaltsort, aber Changi hat immerhin ein paar Überraschungen zu bieten. So gibt es im Terminal 3 einen feucht-warmen Schmetterlingsgarten, in welchem Tausende dieser fragilen Wesen durch die Luft gleiten oder sich an ausgelegten Ananasscheiben gütlich tun. Ein kleiner Bach plätschert über einen künstlichen Felsen. 

Schmetterlinge im Flughafen Changi, Singapur.

Foto: Artur K. Vogel

Es wird noch exotischer: Der Zug vom Terminal 3 zum Terminal 2 durchquert ein futuristisches Gebäude namens «Jewel», und dort fährt der staunende Passagier auf einer Brücke am höchsten Indoor-Wasserfall der Welt vorbei; ein fast unwirkliches Spektakel.

Indoor-Wasserfall im Flughafen Changi, Singapur.

Foto: Wikipedia, Mike Peel

Über den Flug von gut drei Stunden nach Hanoi, eingeklemmt in einen Mittelsitz einer bis auf den letzten Platz besetzten Boeing 737, mag ich mich nicht auslassen, ebenso wenig über die drei Viertelstunden, die man sich im Nội Bài International Airport von Hanoi vor der Passkontrolle die Füsse vertritt. Und über das Zimmer im nicht ganz treffend benannten «Hotel Du Palace» mitten in der äusserst lebendigen Altstadt, das ich auf einer der bekannten Plattformen aufgrund der enthusiastischen Bewertungen ausgewählt hatte, verliere ich ebenfalls keine Worte. Sagen wir es so: Es ist lange her, dass man mich in ein fensterloses Hotelzimmer steckte. In Kuba war das, ca. 2012.

Plötzlich Multimillionär

Bis ich den Zimmerpreis ermittelt hatte, war einige mentale Akrobatik nötig. Denn die Vietnamesen leisten sich eine Währung mit sehr vielen Nullen. So wäre der junge Mann, der die Koffer aufs Zimmer schleppte, mit dem ursprünglich vorgesehenen Trinkgeld von 1000 Vietnamesischen Dong nicht glücklich gewesen. 1000 Dong, für die es eine Banknote gibt, sind umgerechnet genau dreieinhalb Rappen. Das Hotelzimmer, mit allem ausgestattet, was der Reisende braucht, ausser eben einem Fenster, war mit 2,8 Millionen Dong für drei Nächte ausgeschrieben. Das klingt nach viel. Bei einem Wechselkurs von 0.000035 kommt man dann auf 98 Franken oder knapp 33 pro Nacht, Frühstück inklusive.

Vietnamesisches Geld, Banknoten Dong.

Foto: Artur K. Vogel

Als Initiationsritus sozusagen (oder prosaischer: weil ich in der Schweiz keine Zeit mehr hatte) gehe ich zum Coiffeur in einer Nebenstrasse. Er macht sich akribisch über mein ergrautes Haar her und verlangt nach verrichteter Arbeit 150’000 Dong oder 5.25 Franken.

Artur K. Vogel In Vietnam beim Coiffeur.

Foto: Artur K. Vogel

Bevor ich mich auf die nächtlichen Strassen Hanois wage, auf denen ein permanenter Strom von Motorrollern zirkuliert, genehmige ich mir im «Family Restaurant Au Lac» ein Diner: Frittierte Fischhäppchen werden zusammen mit Kräutern, Ananasstücken, feingeschnittenem Gemüse und Zwiebeln in ein Reispapier eingewickelt und wie eine Frühlingsrolle gegessen. Nach ein paar missglückten Versuchen klappt das ganz gut, und ich verzeichne mein erstes Essen in Vietnam als beglückendes Erlebnis.

Artur K. Vogel bei einer Mahlzeit in Hanoi.

Foto: Artur K. Vogel

Per WhatsApp und Facebook treffen erste Fotos aus dem verschneiten Zürich, Bern und Luzern ein und Nachrichten vom Zusammenbruch des Öffentlichen Verkehrs in mehreren Schweizer Städten. Ich habe das Gefühl, genau zum richtigen Zeitpunkt aufgebrochen zu sein.

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