Die Fahrt über die Bernina von St. Moritz nach Tirano im Veltlin dauert zweieinviertel Stunden. Sie führt bis auf 2258 Meter hinauf und durchquert Klimazonen, Kulturen und imposante Landschaften «von den Gletschern zu den Palmen».
Es ist 9:17 Uhr am Bahnhof von St. Moritz. Der Bernina Express setzt sich in Bewegung. Vor uns liegt eine 61 km lange Bahnstrecke, welche bei Eisenbahnfans auf der ganzen Welt als Muss gilt. Der rote Zug taucht alsbald in den Charnadüra-Tunnel, die Hotelpaläste von St. Moritz verschwinden. Die Panoramafenster geben den Blick frei auf das Oberengadin. Auf der anderen Talseite taucht der Ferienort Pontresina auf. Weiter geht es über Brücken und Viadukte, entlang den Bergflanken der mächtigen Massive des Piz Bernina, an dem weit oben der Morteratschgletscher gleisst, und des Piz Palü, vorbei an kleinen Seen, an Wäldchen, stotzigen Feldern und Dörfern.
Die Berninalinie steht seit 2008 zusammen mit der Albulabahn auf dem UNESCO-Verzeichnis des Welterbes und ist ein Wunderwerk der Bahntechnik. Ohne Zahnrad, allein durch Adhäsion, erklimmt der Zug Steigungen von bis zu 70 Promille. Schon bald ist der höchste Punkt erreicht: Ospizio Bernina auf 2253 Metern über dem Meer. Hier oben, am Ufer des milchig-weissen Lago Bianco, würde eine magische Stille herrschen, wären da nicht das Klicken der Kameras und das aufgeregte Geplauder der Passagiere.
Foto: Rhätische Bahn
Südliches Bündner Tal
Dann beginnt der dramatische Abstieg in das südliche, italienischsprachige, aber zu Graubünden gehörende Puschlav oder Valposchiavo. Von der Station Alp Grüm hoch über dem Tal windet sich der Zug durch Galerien, Tunnel und zahlreiche Kehren fast 1000 Höhenmeter hinab. Im Tal angekommen, sollte man eigentlich einen mehrstündigen oder, besser noch, mehrtägigen Halt einlegen: Der malerische Lago di Poschiavo und erst recht Poschiavo selber, der Hauptort des Tales, wären einen Besuch absolut wert.
Wolfgang Hildesheimer (1916-1991), einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, blieb mit seiner Frau Silvia etwas länger, nämlich ab 1957 für 34 Jahre bis zu seinem Tod. Hildesheimer drückte aus, was auch Heutige erfahren, wenn sie hier verweilen: «Das Unerwartete! Im Puschlav stösst man darauf, nicht nur in der Natur, sondern auch in den Dörfern, vor allem in Poschiavo, dem zentralen Ort, dessen Eigentümlichkeiten jeder Vorbereitung spotten.»
Foto: Rhätische Bahn
Pittoreskes Poschiavo
Das Unerwartete in Poschiavo, das sich, stark untertreibend, «Borgo» oder «Dorf» nennt, ist eine pittoreske Altstadt mit Häusern aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Das Ensemble gilt als Ortsbild von nationaler Bedeutung und wirkt fast zu kosmopolitisch in diesem landwirtschaftlich geprägten Tal. Um die Plazza da Cumün, den Dorfplatz, und in den darin zusammenlaufenden Gassen gruppieren sich die gotische Kirche San Vittore mit einem romanischen Turm, das alte Frauenkloster mit einer barocken Kapelle, das Oratorium Sant’Anna mit Beinhaus und das Rathaus mit einem ehemaligen Wehrturm. Der Turm birgt düstere Geschichten. Hier wurden ab dem 15. Jahrhundert bis 1750 die berüchtigten Hexenprozesse geführt, von denen 124 dokumentarisch belegt sind – und das in einem Tal mit damals wie heute rund 3500 Einwohnern.
Auf den Turm hat man vom Hotel Albrici aus eine besonders gute Sicht. Das Albrici erzählt selber eine lange Geschichte: 1682 wurde der Palazzo von Bürgermeister Bernardo Massella als Wohnhaus an den Dorfplatz gestellt; 1848 wurde er zum ersten Hotel des Ortes umfunktioniert, nachdem er schon als Zentrum für die Anhänger des Illuminati-Ordens gedient hatte. Im Palazzo war zudem 1780 eine Druckerei installiert worden, die 1782 die erste italienische Übersetzung von Goethes «Werther» herausgab. Die zehn Gästezimmer sind geglückte Synthesen von neu und alt: moderner Komfort, antike Möbel. Der Rest des Hauses respektiert die lange Geschichte, wirkt fast wie ein urgemütliches Museum.
Foto: valposchiavo.ch
Noch kosmopolitischer als der Dorfkern wirkt das sogenannte Spaniolenviertel am südlichen Dorfrand, eine intakte Zeile eleganter Palazzi aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit grossen Gärten. Erbaut hatten sie Puschlaver, die einst mausarm ausgewandert waren und in der Ferne ihr Glück gemacht hatten, unter anderem als Zuckerbäcker, und die, zurück in der Heimat, stolz ihren neuen Reichtum zur Schau stellten.
Für Wolfgang Hildesheimer hatte das Puschlav «die richtige Höhe, das richtige Klima, die richtigen Leut», dazu «wunderbares Wetter, herrliche Luft». Doch als er 1991 starb, als Ehrenbürger von Poschiavo notabene, waren die Puschlaver nicht sonderlich aufgeschlossen: Als Jude durfte er nicht auf dem katholischen Friedhof beerdigt werden. Auf jenem der Protestanten neben der reformierten Kirche von 1649 fanden er und später seine Frau Silvia die letzte Ruhe. Ein einfacher Grabstein erinnert an den berühmtesten Einwohner Poschiavos.
Foto: Artur K. Vogel
Kreisviadukt von Brusio
Vom Borgo di Poschiavo sind es nur noch 17 km bis ins italienischen Tirano, allerdings mit ein paar abenteuerlichen Ortsdurchfahrten, wo der Bernina Express zur Strassenbahn mit gedrosselter Geschwindigkeit wird. Unterhalb von Brusio wartet ein weiteres technisches Meisterwerk: der berühmte Kreisviadukt. Wie eine Spielzeugeisenbahn dreht der Zug eine vollständige Schleife, um an Höhe zu verlieren. Hier zücken alle Passagiere erneut voller Ehrfurcht die Handys.
Foto: Rhätische Bahn
Die Landschaft wird milder, Weinberge und Kastanienhaine säumen die Strecke. Plötzlich taucht die majestätische Basilika Madonna di Tirano auf, bevor der Zug im Bahnhof der lombardischen Stadt Tirano ausrollt. Hier, auf nur noch 429 Metern über dem Meer, empfängt den Reisenden ein fast schon mediterranes Ambiente. Statt Gletschern gibt es Palmen, Strassencafés laden zum Aperitivo.
Foto: Archivio Consorzio Turistico Media Valtellina
Buchen & reisen
Eine spannende Reise ist die „Weinreise“ mit dem Bernina Express. Diese ist jeweils von Mai bis Oktober von Dienstag bis Freitag buchbar. Im Pauschalpreis enthalten ist die Fahrt im Bernina Express von St. Moritz nach Tirano und retour (inklusive Sitzplatzreservationen) sowie der Transport vom Bahnhof Tirano zum Weingut und retour, Führung durch den Rebberg und den Weinkeller, Weinverkostung von Rotweinen sowie Apéro und Mittagessen auf dem Weingut La Gatta.
Preise in der 2. Klasse CHF 156 (mit Halbtax CHF 126 und mit GA CHF 106), in der 1. Klasse CHF 196 (mit Halbtax CHF 146 und mit GA CHF 106) pro Person.