Das Bergell – Wo die Schweiz den Süden atmet
Das kleine Bergell GR steht im Schatten des touristischen Oberengadins. Zum Glück: Das Tal konnte seinen ursprünglichen Charme bewahren. Die perfekte Region für Kurzferien.
Das kleine Bergell GR steht im Schatten des touristischen Oberengadins. Zum Glück: Das Tal konnte seinen ursprünglichen Charme bewahren. Die perfekte Region für Kurzferien.
Das Unerwartete ist die Freude des Lebens, besagt ein altes Sprichwort. Die Begegnung mit einem inspirierenden Menschen, Sonnenstrahlen, die durch Gewitterwolken brechen – oder die Übernachtung in einem Büro. Aber nicht in einem dieser modernen seelenlosen Zweckboxen, in denen Angestellte heute ihre Arbeitszeit verbringen müssen. Nein, in einem Schmuckstück inklusive Kreuzrippengewölbe, Holzvertäfelung und Aktenschrank mit hunderten Fächern.
Bei einem Besuch im Bergell habe ich nämlich den «Palazzo Salis» im Dörfchen Soglio entdeckt, eine Zeitkapsel aus dem 19. Jahrhundert mit Stuck, Ölschinken, Musikzimmer, knarzende Dielen aber ohne Zentralheizung, weswegen der Palazzo jeden Winter seine Pforten schliesst. Wie charmant!
Für knapp 500 Jahre war das Gemäuer das Herrenhaus des «von Salis-Clans», der einflussreichsten Adelsfamilien der Region. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das stattliche Anwesen in ein Hotel umgebaut – und seitdem kaum renoviert. Ich bin total von den Socken – wie auch vom Bergell. Noch so eine unerwartete Entdeckung.
Nur etwa 20 Kilometer misst das Grenztal zu Italien, das im Schatten des allmächtigen Engadins im touristischen Dornröschenschlaf dahinträumt. Zum Glück! So konnten das Val Bregaglia und der Palazzo seinen ursprünglichen Charme bewahren. Perle des Tals ist das Dorf Soglio, das im Jahr 2015 den Titel «Schönste Dorf der Schweiz» eingeheimst hat.
Die Auszeichnung ist verdient: Auf einer Terrasse hoch über dem Tal räkelt sich der 200-Seelen-Flecken in der Sonne, eingerahmt von Dreitausendern. Zwischen den wärmenden Steinmauern entdecke ich Feigen, Kiwis, Palmen. Hier umweht ein Hauch Süden die Schweiz.
Der Herbst ist vielleicht die schönste Zeit des Jahres für einen Besuch, dann lebt die alte Tradition der Maroni wieder auf, dann erinnern die herbstlichen Kastanienhaine an englische Landschaftsgärten, zwischen denen man herrlich spazieren und lustwandeln kann. Aber auch der Sommer ist herrlich, wenn die Kastanienbäume im satten Grün stehen.
Was heute allerdings so lieblich anmutet, war über Jahrhunderte überlebenswichtig: Maroni waren die Notrationen für harte Winterzeiten. Dementsprechend respektvoll gehen die Bergeller mit ihren Kastanienbäumen um, die auch heute noch gehegt und gepflegt werden. Und ebenso hart wird jede Nuss verteidigt: Das Auflesen von Früchten ist strengstens verboten, Unbedarfte können sich gar eine Busse einfangen.
Im Bergell, genauer im Dörfchen Borgonovo, wurde übrigens auch der Schweizer Kunst-Weltstar Alberto Giacometti (1901-1966) geboren und nach einer internationalen Karriere in Paris 1966 auf dem Dorffriedhof begraben. Er entstammte einer grossen Künstlerfamilie.
Eines ist klar, so dünn wie Giacomettis Skulpturen kommt niemand aus dem Bergell zurück: Das Essen schmeckt zu gut. Die Abende klingen im Restaurant des Palazzo Salis aus, wo Lokales auf den Tisch kommt: Lamm aus der Region, Kastanien aus Soglio, Gemüse vom Dorfbauern.
Derweil besprenkelt die Abendsonne, die unversehens durch einen Wolkenschleier bricht, die gegenüberliegenden Berggipfel mit Gold. Unerwartete Freude.
Mein persönliches Fazit
Bis anhin immer nur bis Sils gekommen, war das Bergell für mich eine wirkliche Überraschung. Während das Oberengadin einen Hang zum Mondänen hat, ist das Bergell herrlich bodenständig geblieben. Ideal zum Ausspannen und schöne Spaziergänge in den Wäldern und Kastanienhainen unternehmen.
Hotel Palazzo Salis Geöffnet von April bis Anfang November Preis für ein Doppelzimmer ab 290 Franken pro Person.
Panoramawanderung Die schönste Wanderung des Tals ist der Panoramaweg von Maloja nach Soglio. Auf 18 Kilometern (etwa 5 Stunden) geniesst man herrliche Ausblicke.
Informationen: Bregaglia, Palazzo-Salis